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„Sicherheit gab es da nicht“

In den 60er Jahren hat Boris Michailow seine nackte Frau fotografiert – und wurde dafür vom KGB ausspioniert. Heute fährt der in Berlin lebende Fotokünstler immer wieder ins ukrainische Charkow, um alltägliches Elend zu dokumentieren. Ein Portrait

von MATTHIAS ECHTERHAGEN

Boris Michailow nimmt seinen Fotoapparat und verlässt das Haus. Er will ein brachliegendes Grundstück in der Nähe fotografieren. Zu dem Foto kommt es nicht. Patroullierende Milizionäre haben ihn auf dem Weg beobachtet und stellen ihn nun zur Rede. Michailow starrt in ihre Gewehrmündungen. Er erklärt sich. Und hat Glück: Die Milizionäre ziehen wieder ab. Nicht einmal den Film nehmen sie ihm.

Eine aufregende Geschichte. Eine total normale Geschichte. Umherschweifende Menschen galten in der Sowjetunion als verdächtig. Wenn sie auch noch Fotos machten, waren sie Spione. Mindestens.

Michailow erzählt das mit Tempo. Als müsse er sich beeilen. Dass ihn nichts einholt, während er erzählt und die Jetztzeit sicheres Fundament bleibt. Er macht eine Pause, wenn das Tempo nicht mehr zu steigern ist. Dann setzt er wieder von neuem an, diesmal ruhig: „Als Fotograf in Charkow hast Du Dich in einer Grauzone zwischen Verboten-und Erlaubtsein bewegt. Irgend etwas konnte immer passieren. Sicherheit gab es da nicht.“

Heute fährt der 1938 geborene Michailow nur noch zu Besuch in seine ukrainische Heimatstadt Charkow. Nach einem Stipendium des Daad wohnt er mit seiner Frau seit 1996 in einer Wilmersdorfer Altbauwohnung. Dort treffen wir uns vormittags. Der Fotokünstler weist lächelnd auf das Sofa im Wohnzimmer und stellt eine Schale Erdnüsse auf den Tisch. Ins Zimmer fällt das Licht der Morgensonne, und im schwarzen, bis oben zugeknöpften Hemd strahlt Boris Michailow eine vornehme Ruhe aus. Die Miliz-Geschichte, sie ist jetzt wieder weit, weit weg. Hinter seinem Rücken türmt sich die Gegenwart meterhoch in Form eines plattgedrückten Kartonberges auf. Ich sehe keine Fotos. Vielleicht versteht es sich von selbst für einen Fotografen, an den Wänden keine hängen zu haben. Außer einem Arbeitstisch und einer Sitzecke ist das Wohnzimmer leer.

„Case history“ war für Michailow 1999 international der Durchbruch. Für diesen Fotoband porträtierte er in den frühen 90er Jahren Obdachlose aus Charkow. Die ersten Werbetafeln aus dem Westen hingen da schon in der Stadt, und die Zahl derer, die auf der Straße lebten, stieg sprunghaft an. Rein dokumentarisch ist „Case History“ trotzdem nicht. Die Szenen sind arrangiert und tragen die Signatur des Künstlers. Die Obdachlosen nehmen Posen ein und zeigen in Gesten, die nichts mehr sagen wollen, ihre schrecklich kaputten Körper. Aber eigentlich mache er „nichts anderes, als wie ein Journalist Motive aus der Realität zu nehmen und sie dann in Kunst zu transformieren“, sagt Michailow. Das sei so etwas wie ein allgemeiner Nenner seiner Fotos.

Seit dem Ende der Sowjetunion bewegt sich Michailow als freischaffender Künstler durch Europa. Ein Stipendium hier, eines dort, verschiedene Projekte werden durchgezogen, und wie ein eingegebener Mechanismus, den er nicht mehr loswird, fährt sein Blick immer wieder nach Charkow zurück: „Charkow ist eine Industriestadt, die man am besten verlässt, wenn man sich erholen will. Es gibt dort keine Seen oder Flüsse, die im Sommer zu Ausflugszielen werden könnten. Charkow hat für zwei Millionen Einwohner ein einziges Kunstmuseum anzubieten. Die Stadt ist mir so vertraut, dass ich in ihr am besten arbeiten kann. Ich fühle sie quasi mit meinem Körper. Bis ich mich wieder an ihr Klima gewöhnt habe und Fotos machen kann, verstreicht meistens ein Monat. Dann fange ich wieder mit der Arbeit an. In den letzten Jahren habe ich viele Fotos gemacht, denn die Schnelligkeit, mit der sich dort das Leben verändert, ist enorm. Ich suche die Veränderungen und möchte sie festhalten.“

Professioneller Fotograf wurde Michailow gegen Ende der 60er Jahre, als jemand vom KGB in seinem Arbeitsspind herumschnüffelte und Aktaufnahmen von Michailows Frau entdeckte. Das war schändlich und verboten – Pornografie. Den Job als technischer Ingenieur in einem Charkower Großbetrieb war Michailow sofort los. Er widmete sich nun ganz der Fotografie.

Seine Bilder aus dieser Zeit kreisen um Tabuthemen wie Sexualität und Privatheit. Im offiziellen Bilderrepertoire gab es keine nackten Körper – für Michailow schon. Bei ihm pissen sie ungeniert im Wald, räkeln sich auf dem Bett und machen Faxen vor der Fotokamera. Sie sind mit sich allein oder gehen mit anderen in einem See schwimmen, in den riesige Fabrikrohre geleitet sind. Das sieht ungesund aus.

Bei Michailow sind Körper zumeist alt, verschrumpelt, aufgebläht. In den ewigen Jungbrunnen der sowjetischen Ikonografie passten sie nicht. „Innerlich gab es immer diesen Konflikt, ob es gut und richtig ist, was ich da mache. Wenn ich meinen Freunden Fotos zeigte, reagierten sie mit Ablehnung. Das darf man nicht zeigen, sagten sie. Oder sie hatten eine ganz andere Sicht und konnten nichts mit ihnen anfangen.“ Erst Jahre später kam ein Kontakt zu den Moskauer Konzeptualisten zustande, als diese schon nicht mehr ganz so inoffiziell waren. Nachrichten aus der Hauptstadt sickerten nur sehr gemächlich in die Provinz, und nicht selten wurde unterwegs noch was hinzugedichtet. In der Versenkung war Verlass nur auf sich selbst.

1998 erschien von Michailow ein düsterer Bilderband: „Unvollendete Dissertation“. Es sind Bilder aus der sowjetischen Alltagswelt der 80er Jahre. Träge und zeitlupenartig kommen nun die Dinge und Menschen ins Visier. Verschneite Straßenanhöhen, schattenwerfende Pfeiler, in den Himmel ragende Drahtleinen, alles versinkt in tiefstem Grau. Ein unterdrücktes Gähnen ist das Leben: irgendwo zwischen Kehle und Brustkorb bleibt es stecken. Nichts bewegt sich mehr. Nichts wird sich mehr ändern. Über Charkow hängt eine undurchdringliche Nebelwand.

In „Unvollendete Dissertation“ hat Michailow erstmals das Bildmaterial auch mit Texten kombiniert. „Ich wollte damals genau die Empfindung der Zeit vermitteln. Mir schien, die Bilder allein vermochten das nicht. Also begann ich, Gedanken zu den Fotos zu formulieren. Ich fand die Situation auf den Bildern plötzlich viel besser entwickelt, sie traf genau den Nerv.“

So reihen sich in „Unvollendete Dissertation“ monologische Sätze an die Bilder. Das ereignislose So-Sein der Realität wird in ihnen gefeiert wie etwas lange Zeit Vernächlässigtes, von dem es dann heißt: „Die Gewohnheit, das Künstlerische, Besondere im Gewöhnlichen zu wollen, hat uns unfähig gemacht, das Gewöhnliche als Gegebenheit wahrzunehmen“; und immer wieder wird der fotografische Akt selbst reflektiert – „Es ist unangenehm, wenn einem viele Leute beim Fotografieren zusehen“.

Unangenehm ist es auch, in die Linse gucken zu müssen. Den Fotoapparat im schnellen Griff auf sich gerichtet zu sehen, an einem Ort wie der Metro, wo Fotoapparate per Gesetz nicht sein durften. In „Unvollendete Dissertation“ spricht dieses Verbot aus den misstrauischen Blicken der Metro-Fahrgäste und aus der Haltung des Mannes, der sich, an einer Stange Halt suchend, vor der Kamera bedrohlich nah aufbaut. Einen Augenblick lang, zwischen Öffnung und Verschluss der Linse, rutscht das So-Sein in den Ausnahmezustand. Das weiß auch Michailow: „Der Reiz auf diesen Bildern kommt aus dem Moment der Aufnahme. Das Risiko war gut zu spüren, und das sagte mir, das Foto würde einen Wert haben und eine Information weitergeben, die vorher verborgen war. Das allgemeine Unbehagen bildet sich auf den Fotos ab und verändert ihre gesamte Struktur.“

Weniger beklemmend ist Michailows zuletzt erschienener Band „Dance“, für den er den Hasselblad Award 2000 erhielt. Die Fotos entstanden im Sommer des Jahres 1978, als Michailow in einem Charkower Park spazierenging und auf eine Gruppe alter tanzender Menschen stieß. Selbstvergessenheit und Verkrampfung sind einander nah auf den Bildern. Erkaltete und milde Blicke überkreuzen sich, bündeln sich in der Kamera. Es ist vielleicht ein letzter Tanz dieser Alten. Die Steinplattensymmetrie der Tanzfläche ist von tiefen Rissen durchzogen.

„Wenn ich heute diese Fotos betrachte, sehe ich sie anders“, resümiert Michailow: „Ich sehe alte, freundliche Menschen, die sich vergnügen wollen. In dem Park damals war mit dem Auftauchen solch einer Gruppe nicht zu rechnen. Es war ein Schock, eine Art Panoptikum. Ich fühlte Ablehnung und Sympathie gleichzeitig mit diesen alten und kranken Pensionären. Sie holten sich für einen Moment ihren Anteil am öffentlichen Leben zurück, den sie schon lange verloren hatten. Das Leben auf den Straßen musste schön, es musste gesund sein. Als ich anfing zu fotografieren, erschreckten sich einige und wurden misstrauisch.“

Inzwischen reagieren die Menschen in Charkow ganz anders auf seine Kamera. „Früher riefen die Leute gleich nach der Miliz, wenn sie jemanden mit der Kamera sahen. Heute schützen sie sich selbst, greifen nach meiner Kamera oder fragen, wozu ich sie fotografiere“. Oder sie gehen wie gewohnt ihrem Leben nach. „Viele sagen auch: `Filme nur, es ist dein Problem, aber mich lass’ in Ruhe, damit wir uns richtig verstehen.‘“

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