: Schuldige Steuerzahler
Frank Castorfs Dostojewski-Adaption macht „Erniedrigte und Beleidigte“ an der Volksbühne zur kapitalismuskritischen Doku-Soap. Das alte Russland ist das neue Berlin und plötzlich passen die Aljoschas, Nataschas, Wanjas und Alexandras wunderbar ins Phantombild islamischer Fundamentalisten
von ESTHER SLEVOGT
Der Titel von Frank Castorfs Dostojewski-Adaption erinnert in der gegenwärtigen Lage eher an erniedrigte und beleidigte Muslime, die sich vom Westen und dem Kapitalismus in so extremem Maße erniedrigt und beleidigt fühlen, dass sie vollbesetzte Flugzeuge in Hochhäusern explodieren lassen. Doch die Erniedrigten und Beleidigten, die sich am Wochenende fünf Stunden lang um die Bungalow-Tristesse in der Volksbühne herum mit ihren erbärmlichen Glücksversuchen abrackerten, das waren Menschen wie Du und ich. Bewohner beschränkter kapitalistischen Glückskonzepte, deren Utopiehorizont irgendwo zwischen einem schönen Haus und einem schönen Körper verläuft.
Bert Neumanns Bühne spiegelt das Fragile der auf Konsum gebauten bürgerlichen Existenz. Ein Bungalow mit winterlich qualmendem Schornstein und zugefrorenem Pool, auf dem die Schauspieler mit und ohne Schlittschuhe gelegentlich ins Stürzen kommen. Die Liegestühle auf der Terrasse sind auch nicht sicher. Wer sich draufsetzt, läuft Gefahr, damit zusammenzubrechen. Hinter den großen Scheiben eines Wohnzimmers, dessen Gardinen ebenfalls nicht ganz reißfest angebracht sind, residiert Natascha (Jeanette Spassova), deren festbetonierte Locke über der Stirn ihre barbiehaften Schönheit dezent verhöhnt. Über der Szene laufen Werbespots, oder es wird, was drinnen geschieht, draußen life übertragen. Die Geschichte siedelt irgendwo zwischen Kleist und Courths-Mahler.
Da ist ein junger, leicht durchgeknallter Fürstensohn (Milan Peschel), der die Tochter des Verwalters liebt. Natascha wird aber auch vom erfolglosen Schriftsteller Wanja (Martin Wuttke) geliebt. Der Fürst (Henry Hübchen) ist etwas aasig, und nicht ohne Charme. Wie Kleistens Käthchen von Heilbronn irrlichtert eine arme Waise (Kathrin Angerer) durchs Bild, und verzückt auch ältere Kritiker, die mit dem Abend ansonsten wenig anfangen können („ein bezauberndes Wesen!“). Waisenkind Nelly entpuppt sich schließlich als Fürstenkind, illegitim versteht sich. Und am Ende taucht in Gestalt der sehr hinreißenden jungen Echt-Russin Irina Potapenko noch eine reiche Erbin auf, deren Reize sich sichtlich nicht auf ihre Millionen beschränken. Damit bringt sie Aljoscha, dessen Vater ihn viel lieber mit dieser Katja als mit Natascha verheiratet sehen würde, in Konflikt.
Castorf erweist sich als luzider Kenner des neuen Berlin, wo die schönen Russinnen längst die puristischsten Botschafterinnen des Kapitalismus sind, dessen Trophäen sie in Form von teuren Handtaschen und Klamotten selbstbewußt zwischen Kudamm und Friedrichstraße spazieren führen. Vielleicht stammen Wanja, Aljoscha oder die von beiden angehimmelte Natascha ja auch aus einer Fernseh-Soap. Jede Szene eine Folge. Dann dreht sich der Bungalow und wir können das Ganzen von einer neuen Perspektive betrachten. Angesichts der Tatsache, dass Castorf hier im Lauf von fünf Stunden gleich eine ganze Soap-Staffel auf einmal abspult, gewinnt der Knopf zum Abschalten am Fernsehgerät durchaus utopisches Potential, und seine Bedeutung auf das Selbstbestimmungsrecht des Individuums kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Vor dem 11. September hätte man wohl schon leicht müde lächelnd auf diese ritualisierte Form von Kapitalismuskritik als Fernsehkritik geblickt. Denn der Container als Präsentationsform gilt ja selbst unter Fernsehjunkies inzwischen als überholt. Aber wie man Castorfs Figuren so Stunde um Stunde zusieht und sich in der Endlosschleife von Auf- und Abtritten langsam einzurichten beginnt, fangen sie an, einem ans Herz zu wachsen. Auch, weil nach dem 11. September dieser auf materielle Sicherheit fixierte Glücksbegriff plötzlich nicht mehr so kalten Herzens an den Pranger gestellt werden kann. Denn all die Wanjas, Aljoschas, Nataschas und Alexandras passen ziemlich genau ins Phantombild islamischer Fundamentalisten, weshalb sie jetzt auch unter den Trümmern des World-Trade Centers liegen könnten. In einem Interview hat Bin Laden den Westen wissen lassen, dass es keine unschuldigen Opfer geben könne. Jeder der Steuern zahle, unterstütze das System und mache sich schuldig. Großen Teilen der westlichen Gesellschaft ist ja selbst das Profane ihres Glücksbegriffs suspekt. Weshalb manche von ihnen auch glauben, dass jemand wie Bin Laden wirklich recht hat, sie deshalb für Todeskandidaten zu halten. Kaum jemand aber bemerkt dahinter die Arroganz eines Großkapitalisten, der wie Dagobert Duck im Geld schwimmt, und sich seine Unabhängigkeit leisten kann. Castorfs Erniedrigten und Beleidigten sieht man deshalb fast wehmütig zu – wie Vertretern einer aussterbenden Spezies. Nie wieder werden sie so blöd sein dürfen, wie damals im Mai, als dieser Abend während der Wiener Festwochen zum ersten Mal Premiere feierte.
Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz, weitere Vorstellungen 20., 26. u. 27. 10. Jeweils 19.00 Uhr. Karten unter 24065-5
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