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Neue Fluchtwelle befürchtet

UNHCR erwartet Verschlechterung der Situation bei Wintereinbruch. USA räumen Beschuss von Wohngebiet ein. Taliban lassen Journalisten ins Land. US-Offensive mit Hubschraubern erwartet

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Eine Woche nach Beginn der Luftangriffe auf Afghanistan haben diese die Flugzeuge und Flugfelder der Taliban weitgehend zerstört, ihre Luftabwehr und Kommunikationslinien schwer beschädigt, aber die Truppen und ihre Bewaffnung nur leicht in Mitleidenschaft gezogen. In einer zweiten Phase des Krieges könnte diese jedoch ins Schussfeld der Angreifer kommen: in Vorbereitung oder parallel zu ersten Einsätzen von Bodentruppen.

Am Samstag hatte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Nordallianz aufgefordert, „in Aktion zu treten“. In einem solchen Fall dürfte die Zahl der militärischen Opfer an den Frontlinien nördlich von Kabul, um die nordafghanische Stadt Mazar e-Sharif und an der usbekischen Grenze in die Höhe schnellen. Da die Front in vielen Fällen quer durch Dörfer und Felder geht, könnte dies auch Folgen für die Zivilbevölkerung und die Flüchtlingsbewegungen haben.

In der ersten Woche haben sich die Auswirkungen der Luftangriffe weitgehend auf die Flüchtlingsbewegungen im Inneren Afghanistans beschränkt. Zahlreiche Familien verließen ihre Häuser namentlich in den vier großen Städten Herat, Jalalabad, Kabul und Kandahar und flüchteten aufs Land. Der Druck auf die Grenzen nahm nur unwesentlich zu, weil die Behörden der Nachbarländer die Übergänge hermetisch abgeriegelt hatten. Die Zahl der Flüchtlinge, die über Umwege dennoch nach Pakistan kamen, wird auf 2.000 bis 4.000 Personen pro Tag geschätzt. Dennoch bezeichneten Vertreter von Hilfswerken die Situation vor Wochenbeginn als alarmierend.

In einer scharf formulierten Erklärung am Sonnabend in Islamabad bezeichnete der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), Ruud Lubbers, die Situation als einen „Kampf gegen die Zeit – und gegenwärtig verlieren wir ihn“.

Das UNHCR-Flüchtlingshilfswerk befürchtet bei einer Eskalation des Kriegs und einem frühen Winterbeginn den Zusammenbruch der Grenzkontrollen und innerhalb weniger Tage einen Zustrom von 400.000 Flüchtlingen nach Pakistan und Iran. Für diese erste Welle müssen in Pakistan 15 Lager bereitgestellt werden; bisher sind aber erst fünf mögliche Punkte identifiziert worden. Die Lager sind noch nicht eingerichtet und die Orte nur teilweise erschlossen.

In Pakistan kritisierten die Hilfswerke die Behörden, weil sie darauf beharren, die Lager in abgelegenen Landstrichen nahe der Grenze zu Afghanistan einzurichten. Sie monieren, dass die fehlende Erschließung mit Straßen und der Mangel an Wasser, den Bau und Unterhalt solcher Lager erschweren. Hinzu kommt, dass das UNHCR-Personal in Pakistan während der ganzen letzten Woche praktisch unter Hausarrest stand, weil feindselige Demonstranten selbst für einheimische Mitarbeiter eine Bedrohung darstellten. Das behinderte auch die Abfertigung von Nahrungsmitteltransporten für die Binnenflüchtlinge in Afghanistan. Diese Flüchtlinge befinden sich in einer noch kritischeren Situation als die internationalen Flüchtlinge, da sie oft völlig mittellos sind und zu ihrem Überleben auf Hilfe von außen angewiesen sind. Die Nahrungsmittelpakete, die abwechselnd mit den Bomben über den Hungernden abgeworfen werden, dürften die Bedürftigen in den wenigsten Fällen erreichen.

Die US-Regierung hat am Wochenende erstmals eingeräumt, bei den seit einer Woche andauernden Bombardements ein Wohnviertel in Kabul getroffen zu haben. Ziel der Bombe sei ein Hubschrauber auf dem Flugplatz der Hauptstadt gewesen, teilte ein Pentagonsprecher am Wochenende in Washington mit. Durch die Bombe seien vier Menschen getötet und acht verletzt worden. Eine Quelle für diese Angaben nannte das Pentagon nicht.

Zu Berichten aus Afghanistan über mehrere hundert Tote in dem Dorf Karam in der Nähe von Dschalalabad nahm die US-Regierung keine Stellung. Am Sonntag hatte die Taliban-Regierung erstmals seit dem 11. September eine Gruppe internationaler Journalisten ins Land gelassen und zu dem Ort geführt.

Die Washington Post berichtete am Sonntag unter Berufung auf Quellen aus dem US-Verteidigungsministerium, die nächsten Phase des Krieges solle weiträumige Angriffe mit Hubschraubern und verdeckte Operationen umfassen. Dabei wolle das Pentagon vor allem die aus Arabern und anderen nichtafghanischen Kämpfern bestehende so genannten 55. Brigade der Taliban angreifen.

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