: Loyalität bedeutet, auf die stärkere Seite zu wechseln
Viele Kämpfer, die sich den Taliban angeschlossen haben, kehren zu ihren alten Kommandanten zurück. Doch die Zeit wird allmählich knapp
PESCHAWAR taz ■ Gul Mohammed musste nicht zum Kriegsdienst gezwungen werden. Als die Taliban vor einer Woche an seine Tür klopften, trat er mit seiner Kalaschnikow, die er jahrelang unter dem Bett versteckt hatte, vor das Haus. Es war eine Frage der Ehre. „Eine ausländische Macht bedroht uns, jetzt müssen wir zusammenstehen.“ Mohammed ist ein schmächtiger Mann mit dunkler, faltiger Haut, schütterem Haar und langem, dünnem Bart. Mit 49 hat er das ideale Soldatenalter weit überschritten. Aber als Mudschaheddin konnte er jahrelang Erfahrung im Kampf gegen die Russen sammeln. Deshalb übertrugen ihm die Taliban das Kommando über einen Trupp von zwanzig Mann. Mohammed versteht das: „Diese Koranstudenten können doch nicht richtig kämpfen, deshalb sollen wir alten Kämpfer ran.“
Im Süden der Stadt Dschalalabad hoben sie Schützengräben aus, sahen aus sicherer Distanz, wie die Amerikaner den Flughafen bombardierten, und warteten auf Befehle, die nie kamen. Zwei Helikopter seien zerstört worden, sagt Mohammed, und eine Moschee in der Stadt. Die Soldaten sind ebenso wie die Zivilisten von allen Informationen abgeschnitten. Die Taliban sagten Mohammeds Trupp nur, dass der Dschihad beginne, sobald amerikanische Truppen ins Land eindringen.
Aber ist dieser Krieg wirklich heilig? Gul Mohammed fühlt sich verpflichtet, Ussama bin Laden zu verteidigen, „weil uns die Amerikaner keine Beweise gegen ihn gezeigt haben“. Anderseits glaubt er nicht an die Zukunft der Taliban. Deshalb hat er für zwei Tage seine Truppe verlassen und ist heimlich über die Grenze nach Pakistan gegangen, um in Peschawar seinen alten Mudschaheddin-Kommandanten Pir Ahmed Gailani zu treffen.
Gailani, Führer der „Islamischen Front“, war in Afghanistan als Heerführer wie auch als religiöser Führer des wichtigsten Sufi-Ordens hoch geachtet. Jetzt will der alte Mann von Peschawar aus den afghanischen Widerstand gegen die Taliban organisieren – und holt seine ehemaligen Kampfgefährten zurück. Gul Mohammed hat den Kommandanten in einem Flüchtlingsquartier Peschawars getroffen, wo die Straßen aus Lehm so eng sind, dass selbst die Motorrikschas kaum durchkommen.
Wie Gailani schmieden viele ehemalige Mudschaheddin-Kommandanten Pläne zum Sturz der Taliban. Sie kommen aus dem Exil zurück, trommeln ihre Soldaten zusammen, die in Peschawar, Quetta, Islamabad als Markthändler oder Lastwagenfahrer leben. Westliche Diplomaten sind in geheimer Mission nach Peschawar gekommen, haben sich in billigen Pensionen eingemietet und organisieren konspirative Treffen mit Stammesführern. Die alten Strukturen seien noch intakt, sagt einer dieser Sonderbeauftragten, „die Kommandanten könnten in Afghanistan sofort tausende Soldaten mobilisieren“. Doch diese Soldaten wollen bezahlt werden. Und der Westen zögert.
Die Zeit wird knapp. Die Angriffe der Amerikaner schaden dem afghanischen Widerstand enorm. Je mehr Zivilisten sterben, desto mehr Afghanen wollen an der Seite der Taliban in den Krieg ziehen. „Die Leute sagen, dass die Amerikaner nicht gegen den Terror, sondern gegen den Islam kämpfen“, sagt Shahbaz, ein 33-jähriger Gemüsehändler in einem Flüchtlingsquartier in Peschawar.
Auf Loyalitäten ist in Afghanistan wenig Verlass. Das beste Beispiel dafür ist die Front in Nordafghanistan, wo täglich Truppenverbände die Seite wechseln. Vorgestern liefen 700 Taliban-Soldaten zur Allianz über, gestern nahm ein Kommandant aus dem Norden seine Soldaten zu den Taliban mit. Loyalität bedeutet, zur rechten Zeit auf stärkere Seite wechseln.
Nach dem konspirativen Treffen in Peschawar ist Gul Mohammed erst einmal verunsichert. Einerseits empfindet er eine Verbundenheit mit seinem alten Kommandanten, andererseits fühlt er sich auch den Taliban verpflichtet – obwohl er sie „eigentlich nicht mag“. Mohammed will einem Herrscher dienen, der Afghanistan Frieden und eine gemeinsame Regierung aller Völker bringt. „Ich werde weiter den Taliban dienen, aber ich werde heimlich die Befehle meines Kommandanten ausführen“, sagt er. Details will er nicht verraten, aber es ist klar: Auf Befehl des Kommandanten würde er auch gegen die Taliban kämpfen. Und: „Solche wie mich gibt es sehr viele in Afghanistan.“BERNHARD ODEHNAL
Der Autor ist Auslandsredaktor der Zürcher „Weltwoche“
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