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Berlin macht Gregor Gysi grau

Spricht er über seine Zukunft, wird daraus eine Abfolge von „Wenn“ und „Dann“

aus Berlin RALPH BOLLMANN

Bastelmaterial. Gregor Gysi versinkt immer tiefer in seinem Sessel, während der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit über die Zuschüsse für Bastelmaterial in städtischen Kindertagesstätten doziert. An diesem Abend bei der Wahlkampfdiskussion der Gewerkschaft Ver.di beeindruckt der SPD-Mann die anwesenden Erzieherinnen mit seinen Erfahrungen als ehemaliger Tempelhofer Stadtrat für Volksbildung. Gysi hält sich die Hände vors Gesicht. Bastelmaterial. Der Medienliebling sieht alt und grau aus. So hatte er sich den Wahlkampf nicht vorgestellt, als er sich entschloss anzutreten.

Doch der Traum von der Metropole Berlin dauerte nur eine Stunde und 20 Minuten. Punkt zwölf Uhr mittags tritt Gregor Gysi an jenem Sonntag im Juni vor die Mikrofone, um den lange erwarteten Satz auszusprechen: „Ich will Regierender Bürgermeister der Hauptstadt werden.“ Gregor Gysi (PDS) gegen Wolfgang Schäuble (CDU) – ein Duell, das endlich auch die Hauptstadt selbst zum Schauplatz bundespolitischer Gefechte macht. Im Roten Rathaus zittert derweil Klaus Wowereit, der erst am Vortag gewählte SPD-Bürgermeister, um die neu errungene Macht.

Um 13 Uhr 20 kann sich Wowereit wieder entspannen. „Schäuble tritt nicht an“, melden die Nachrichtenagenturen – ein Satz, der dem Berliner Wahlkampf eine völlig neue Richtung gibt. Mit ihrem Votum für den lokalen Nachwuchspolitiker Frank Steffel entscheidet sich die CDU für die Berliner Provinz. Gysi, der auf nichts so angewiesen ist wie auf Widerspruch und Kontroverse, steht plötzlich ohne Gegenüber da. Vier lange Monate muss er sich durch eine Kampagne schleppen, in der er seine Rolle bis zum Schluss nicht findet. „Schäuble“, sagt Gysi jetzt, „wäre natürlich eine andere Herausforderung für mich gewesen. Das hätte mich gereizt. Ich dachte ja auch, dass er kandidiert.“

Wäre. Hätte. Dachte. Vom Hauptstadt-Thema, das Gysi in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs rückte, will niemand etwas wissen. Was kann Berlin für das Land tun? Das ist eine Frage, die an der Spree niemanden wirklich bewegt. Was kann das Land für Berlin tun? Darüber hat sich außerhalb der Stadt noch niemand Gedanken gemacht. Auf dem PDS-Bundesparteitag Anfang Oktober bekommt Gysi für dieses Thema nur ein einziges Mal Applaus – als er sagt, die DDR-Bürger hätten sich ja „schon immer gefragt“, wozu man überhaupt eine Hauptstadt braucht.

Und die letzte Schlacht zwischen Freiheit und Sozialismus, die Helmut Kohl im Juni angekündigt hatte? Sie ist einfach ausgefallen. Vor dem 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, gab es einen letzten Schlagabtausch um die PDS-Vergangenheit. Damit war das Thema abgehakt – und Gysi der Möglichkeit beraubt, sich angesichts zweier verfeindeter Stadthälften als einziger Mittler zwischen Ost und West darzustellen. Der PDS-Politiker musste um jeden Frontstadtveteranen froh sein, der ihn im Wahlkampf noch anpöbelte. Da brauchte nur eine einzelne Frau zu schimpfen, sein Auftritt im Westbezirk Charlottenburg sei „eine Schande“ – da sah sich die Dame mit Turmfrisur und Rauhaardackel schon von Fernsehteams umringt.

Statt großer Debatten um Ost und West, um Hauptstadt und Metropole absolvierte Gysi einen endlosen Marathon zäher Diskussionsrunden über Stellenpläne und den Zustand der Schultoiletten. So oft saßen die Spitzenkandidaten in immer gleicher Besetzung auf dem Podium, dass Gysi schon öffentlich klagte, er wolle nicht ständig im Fünfer-Pack auftreten – sonst würden die Kandidaten bis zum Wahltag „die Sätze des anderen auswendig“ können.

Ein Jahrzehnt lang wollten die Parteien, die sich selbst als bürgerlich bezeichnen, den intellektuellen Großbürger Gysi „entzaubern“. Jetzt, wo es die CDU schon aufgegeben hat, hat es der Gescholtene selbst besorgt: Gysi ist in die Berlin-Falle getappt. Geschmeichelt von der Idee, die Einheit der Hauptstadt als Bürgermeister zu vollenden, hatte er die Spekulationen ins Kraut schießen lassen. Damals ging es Gysi wie jetzt dem Bayern Edmund Stoiber im Vorfeld der Bundestagswahl: Zu lange hatte er mit einer Kandidatur geliebäugelt, als dass er ohne Gesichtsverlust darauf verzichten konnte.

Mit Schäuble hätte es vielleicht zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen der drei Berliner Volksparteien SPD, PDS und CDU kommen können. In einer rein lokalpolitischen Kampagne mit einem schwachen CDU-Kandidaten aber konnte Klaus Wowereit triumphieren. Der neue SPD-Bürgermeister verkörpert die Berliner Bräsigkeit so perfekt wie sein Vorgänger Eberhard Diepgen von der Union. Die Berliner Landespolitik ist auf das provinzielle Niveau der letzten Jahre zurückgefallen. Unter diesen Umständen Senator zu werden – das ist eine Perspektive, die Gysi noch im Frühjahr weit von sich gewiesen hatte: „Für eine Einordnung in das bestehende Filzsystem stehe ich nicht zur Verfügung.“ Genau das droht ihm jetzt.

Inzwischen gibt Gysi gequält zu Protokoll, er sei zur Übernahme eines Senatsressorts „bereit“. Kultur darf es sein oder Wissenschaft, Bildung oder Kultur. „Ich arbeite mich in das eine Gebiet so gut ein wie in das andere. Mein Hauptpart wäre darüber hinaus, dafür zu haften, dass die PDS im Rahmen einer Koalition die Politik machte, für die ich stehe.“

Doch die Aussicht, dass der PDS-Star zum Wowereit-Stellvertreter degradiert wird, ist auch für die Wähler wenig attraktiv. In den Umfragen sackte die Partei zeitweise auf 15 Prozent – weit entfernt von Gysis selbst gestecktem Wahlziel, „20 Prozent plus x“. Nach den Anschlägen in den USA hätten die Leute eben „keine Lust auf Experimente“, sagt Gysi zu solchen Umfragen. Aber seine Popularitätswerte waren schon vor dem 11. September im steten Fall begriffen, die Chancen auf das Amt des Regierenden Bürgermeisters hatten sich da bereits verflüchtigt.

Um jeden Frontstadt-Veteranen, der ihn anpöbelte, musste er noch froh sein

Der Krieg in Afghanistan könnte dem Kandidaten jetzt sogar aus der Klemme helfen. Zum einen legt die selbst ernannte Friedenspartei PDS wieder kräftig zu, seit die Amerikaner ihre Bomben über dem Hindukusch abwerfen. Zum anderen sind die Chancen für eine rot-rote Koalition in Berlin deutlich gesunken, seit Kanzler Gerhard Schröder die Partei der Kriegsgegner vom Fluss der geheimen Informationen abgeschnitten hat. In dieser neuen Lage hat Gysi immerhin die Chance, mit einem achtbaren PDS-Ergebnis zumindest nicht als Wahlverlierer dazustehen – und den Opfergang in ein Senatsressort dennoch vermeiden zu können.

Doch von seinem Ziel, mit der PDS endlich in der Bundesrepublik anzukommen, wäre Gysi dann weiter entfernt denn je. Das muss ihn schmerzen – hat er sich doch lange in der Rolle des einzigen Ostlers gefallen, der in die Geheimnisse westlicher Machtpolitik Einblick hat. Gerne redet er über seine Vier-Augen-Gespräche mit Helmut Kohl oder die vertraulichen Unterrichtungen im Auswärtigen Ausschuss. Die wahren Geheimnisse behält er für sich, aber das macht ihn für das Publikum nur interessanter.

Und was wird nun aus Gysi? Spricht er über seine politische Zukunft, wird daraus eine schier endlose Abfolge von „Wenn“ und „Dann“. Wenn die Berliner PDS in der Opposition bleibt, dann kandidiert er vielleicht wieder für den Bundestag. Und wenn er das tut, dann versucht er es vielleicht in Friedrichshain-Kreuzberg, dem neuen Bezirk, in dem je zur Hälfte Westler und Ostler wohnen. Es könnte aber auch sein, dass er die Wähler in seinem alten Wahlkreis Marzahn nicht enttäuschen will. Nur eines weiß er schon gewiss: „Diese Frage wird relativ zügig nach dem 21. Oktober entschieden.“

Doch eine Zukunft als einfacher Abgeordneter ist wenig reizvoll für einen Politiker, der zehn Jahre lang die Fraktion geführt hat. Je mehr die PDS zu einer normalen Partei wird, desto mehr wird auch die Sonderrolle ihres prominentesten Vertreters obsolet. Seine erstaunliche Talkshow-Karriere hatte, wie Gysi selbst sagt, vor allem einen Grund: In den gewöhnlichen Nachrichtensendungen war die PDS Anfang der Neunziger weitgehend tabu. Das hat sich längst geändert. Heute kann die PDS, etwa in der Gestalt des Gysi-Nachfolgers Roland Claus, so dröge sein, wie sie will – sie wird trotzdem wahrgenommen.

Bleibt für Gysi also nur die Rolle eines politischen Frührentners à la Oskar Lafontaine? Oder wird er, wie Wolfgang Schäuble, ständig für weitere, aussichtslose Kandidaturen ins Gespräch gebracht? Nach den klassichen Regeln einer politischen Karriere könnte auf den Fraktionsvorsitz allenfalls noch ein Ministeramt im Bund folgen: eine Perspektive, die derzeit völlig abwegig erscheint. Aber ganz fremd ist dem Berliner Kandidaten diese Aussicht nicht – Krieg hin oder her. „Bis 2006“, sagt Gysi, „kann die internationale Entwicklung ja auch so sein, dass Krieg gar nicht mehr zur Debatte steht.“

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