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Schütteltour in den Cuchumatanes

Guatemalas Hochland ist wild, unzugänglich und einsam. Auf dem höchsten Berg erhebt sich eine Funkanlage: Die Vereinten Nationen haben hier eine Radiostation gebaut, damit die abgelegenen Bergdörfer miteinander kommunizieren können.

von ANDREAS LORENZ

Der klapprige Bus wackelt eine Lehmstraße hinunter. Körbe mit Eiern, Tomaten, Kartoffeln stapeln sich. Die Markthändler drängen sich auf den harten Sitzbänken zusammen, immer drei auf einer. Augen fallen zu, öffnen sich wieder kurz, wenn ein Schlagloch das Gefährt durchschüttelt. Zwischen den schwarzen, glatten Haarschöpfen lugt der dünne Kopf eines Truthahns durch ein Korbnetz hervor und schaut durch die Reihen der Fahrgäste. Selten fällt ein Wort in diesem Gedröhn. Jeder scheint damit beschäftigt, die Schläge der Straße abzufedern.

Die Camioneta, Guatemalas Transportmittel Nummer eins, fährt abseits der Teerstraßen auch die entlegensten Winkel des Landes an. Einmal am Tag startet sie von der Provinzhauptstadt Huehuetenango, windet sich die steile, kurvenreichen Strecke hinauf und arbeitet sich ins schroffe Gebirge der Cuchumatanes vor, jenem Höhenzug im Nordwesten, der mit seinen Ausläufern fast die Grenze zum mexikanischen Chiapas berührt. Zielort der Schütteltour ist Todos Santos, ein kleines Bergdorf, das irgendwo weiter vorne, tiefer in den Bergen und dem Dunst der Cuchumatanes liegt.

Bald ist ein Höhe von schätzungsweise 2500 Metern erreicht. Dunkles Gewölk hängt zäh und niedrig über dem Bus. Es ist Mittag, doch die Umrisse der Felsen rechts, ganz nahe an der Straße scheinen in einer verfrühten Abenddämmerung zu verschwinden. Die Luft im Bus ist feucht, die Scheiben beschlagen. Vorne im Frontfenster der zuckelnde Jesus-Aufhänger und die schmale Lehmstraße. Ein tiefer Bergeinschnitt gähnt links, wo der aufgeweichte Weg endet. Plötzlich bleibt der Bus stecken. Der rechte Vorderreifen ist in einer Pfütze stecken geblieben.

Die Markthändler erwachen, wechseln Blicke, gehen hinaus und warten dort wortlos, dass ihre Ware vom Dach gehoben oder geworfen wird. Dann ziehen sie zu Fuß weiter dem Dorf entgegen. Einer nach dem anderen verschwindet da vorne im Dunst. Der Fahrer würgt den Motor ab, steigt aus und drückt die Motorhaube hoch. Unter einsetzendem Regen folge ich den Markthändlern in den Dunst hinein. Bald macht der Regen eine Pause, die dunkle Wolkendecke öffnet sich zaghaft. Sonnenlicht dringt ins Hochtal, während die Berge drumherum weiter verborgen bleiben. Die wilde Landschaft am Wege tritt aus dem Halbdunkeln hervor: Sattes Grasgrün zieht sich über die Felsen, dazwischen runzlige Kakteen. Hier und da führen Steinwall-umgrenzte Pfade schnurstracks weiter hoch in die wolkenverhangenen Berge. Nach einer Stunde Fußmarsch erreiche ich im Schlepptau der Händler die ersten Häuser von Todos Santos, in einer Talsenke gelegen, umgeben von gewaltigen Höhenzügen.

Es hat wieder zu regnen begonnen. Aus der Ferne betrachtet gleichen die Wellblechdächer des Dorfes einem überdimensionalen grauen Schirm. Trotzdem ist es schwer, trockenzubleiben in dem Dorf. Fünf Männer drängen sich unter das Vordach eines Ladens kurz vor dem Marktplatz, während das ablaufende Regenwasser in die Pfützen zu ihren Füßen prasselt. Sie tragen alle noch die traditionelle Kleidung der Mam-Bevölkerung, die in diesem Teil der Cuchumatanes lebt: rot-weiß gestreifte Hosen aus handgewebter, Wolle und auf dem Kopf große, gelbliche Strohhüte.

Auf dem Platz vor der verwitterten, weißen Kathedrale bildet der Niederschlag kleine Wasserströme, die sich den nächsten Abhang hinunterstürzen. Vor einem Restaurant treffe ich Jorge, den Bergführer. Ein junger Mann, vielleicht 20. Er ist von hier, trägt auch die Traditionshosen der Mam, wird aber nicht mehr lange in dieser kleinen Dorfwelt bleiben. Das sieht man ihm sofort an. Wir gehen hinein, trinken ein „Gallito“, ein Hähnchen. Das Nationalbier mit dem Gockel-Emblem ist herb und lecker. Soll bald nach Frankreich exportiert werden, schreiben die Zeitungen voller Stolz. Die Bergwanderung wird zeitig losgehen, sagt Jorge, nachdem ich angefragt habe, ob noch einer mitkommen kann. Morgen früh, wenn es noch dunkel ist.

Wir trinken aus und verabschieden uns. Auf dem Weg zum Hotel, einer kleinen, dünnwändigen Herberge, torkeln Männer lallend über die pfützendurchtränkte Hauptstraße des Dorfes. Einer hat es nicht mehr nach Hause geschafft und lehnt an einer Hauswand. Der Hut fällt ihm vom Kopf, aber er merkt es nicht. Das karge Leben in den Cuchumatanes sucht Trost im Suff – oder in der Religion: Kaum ist es dunkel, schallt die schrille Stimme eines Predigers durch ein Mikrofon über die Dächer. Der schauderhafte Gesang eines Mädchens beschließt die abendliche Messe, der hier in Todos Santos keiner entrinnen kann.

Fünf Uhr morgens. Ein Wecker ist nicht nötig, denn vom Marktplatz vor der Kathedrale dringt der stumpfe Ton einer Bushupe durch die Holzwände in mein Zimmer. Der erste Bus verläßt Todos Santos etwa um halb sechs kurz vor der Morgendämmerung. Noch wartet er mit laufendem Motor, als ich fröstelnd den Weg vom Hotel herunterkomme. Der Fahrergehilfe schreit die letzten Fahrgäste zusammen. Huehue, klingt es wie Wolfsheulen durch das noch dunkle Bergtal. Zurück nach Huehuetenango! Es ist wohl der Bus von gestern. Doch noch aus dem Schlammloch gekommen! Das Knattern des Motors ist kaum verklungen, da schleicht Jorge schlaftrunken durch die bleiche Luft heran. Auch der Rest der Gruppe, ein Ire, zwei Kanadier sind bald da. Nach einem Kaffee am Kiosk führt Jorge uns aus dem Dorf hinaus. Die frischen Spuren des Busses zeichnen sich noch auf der Straße ab. Alle außer Jorge sind warm eingepackt, denn die Luft ist kühl und feucht. Kaum anzunehmen, dass es tagsüber wärmer wird.

Nachdem wir eine halbe Stunde die Straße entlanggegangen sind, taucht ein verlassen in der Wildnis stehendes Haus am Wegesrand auf. Die Schafe in der Umzäunung daneben blicken uns verständnislos an. Wir biegen ab und stoßen bald auf einen Steinwallpfad, der uns hochführt in eine Nebelwand hinein. Rote Blüten thronen auf den Steinen zu unseren Seiten. Der Nebel verschluckt leise Unterhaltungen. Ich lasse mich etwas zurückfallen von den anderen und höre ich nur den Ton der eigenen Schritte und sonst nichts. Die aus dem Nebel schimmernden Umrisse der schlanken, hohen Pinien behalten ihren Abstand zu den Steinwällen. Nur die gedrungenen Zypressen wagen sich heran. Wie hellgrüne, erstarrte Blitze wachsen sie schief aus dem Boden. Bald öffnet sich ein Ebene vor uns. Auf freiem Feld ruhen gefallene Baumstämme. Kleine, gelbe Blüten schimmern auf Höhe der Grasnarbe. Die Gruppe verliert sich etwas in dieser stillen Landschaft. Der Nebel verdichtet sich, und es ist ein beruhigendes Gefühl, jemanden dort vorne noch erkennen zu können. Nach kurzem, steilem Aufstieg erreichen wir den Gipfel des Berges.

„La Torre, der Turm, ist Guatemalas höchster Berg,“ referiert Jorge. 3.800 Meter. Fast so hoch wie die Vulkane weiter im Süden. Die Vegetation auf der Bergkuppe ist karg, doch noch immer wachsen Bäume und Sträucher zwischen den schimmernden Felsen. Eine kleine Wellblechhütte drückt sich in eine Erdmulde. Dort wartet Jeronimo in seinen Gummistiefeln auf uns. Er lebe hier schon seit einiger Zeit, erzählt Jorges Freund, ohne zu sagen, ob das nun ein Monat oder ein Jahr ist. Kümmert sich um die Funkstation, sagt er und deutet hinter sich. Dort erhebt sich tatsächlich eine weiße Funkanlage, etwa drei Meter hoch, massiv und schmucklos, aus dem felsigen Grund. „Naciones Unidas“ steht darauf. „Die Vereinten Nationen haben hier eine Radiostation gebaut, damit die Bergdörfer miteinander kommunizieren,“ erklärt Jeronimo. Der Fortschritt sei eben unaufhaltsam. Er kommt überall hin, sogar in die Cuchumatanes.

Wir gehen in die Hütte. Das faltiges, freundliches Gesicht des vielleicht außergewöhnlichsten UN-Angestellten leuchtet über der kleinen Feuerstelle, während er das Wasser für den Kaffee in einem zerbeulten Kocher bereitet. Bald duftet es wohlig in der einfachen Unterkunft. Wir wärmen die Hände an den Flammen und fragen, wie das Leben hier sei. Nun, er fühle sich nicht einsam hier oben, berichtet Jeronimo. Aber einfach sei es auch nicht. Die Legenden füllen die Berge mit Wesen. Nachts weht der Wind um die Hütte. Die Geräusche der Bergwelt transportieren manchmal merkwürdige Bilder in den Kopf. Er sagt das ganz ruhig. Durch einen Spalt im Tuchverdeck des niedrigen Eingangs sehe ich hinaus. Nebel streift über die Höhe und durch die Bäume hindurch. Wir verlassen die Einsiedelei. Auf dem Rückweg treffen wir auf einen zwischen Felsen versteckten See. Er glänzt silbern in der stillen Luft. Wir verharren eine Weile am bewegungslosen Wasser, als warteten wir darauf, eines von Jeronimos Legendenwesen heraufsteigen zu sehen. Am Rande einer tiefen Schlucht steigen wir einen engen, kurvenreichen Pfad hinab. Eine Lücke im Nebel gibt die Sicht auf die andere Seite des Abhangs frei. Dort steht ein Kind und bewacht die Schafe. Es winkt, dann ist es weg. Irgendwann während des Abstiegs setzt Regen ein. Er fällt aus dem Nebel herab, wie aus dem Nichts. Einzig der Ire hat ein grünes, riesiges Regencape, der Rest wird nass. Der letzte Teil des Abstiegs ist beschwerlich, da der Berghang sich steil zum Tal neigt. Jorge knickt um, humpelt weiter. Wir sind alle etwas müde. Bald ist die Straße erreicht. Ein Laster nimmt uns mit. Auf der Ladefläche müssen wir uns am Geländer festhalten. Keine Hand frei, um irgendetwas über den Kopf zu halten. Es ist schwierig, in den Cuchumatanes trocken zu bleiben.

Im Dorf angekommen, geben wir dem Fahrer ein paar Quetzal. Ich sage Jorge Lebewohl und gehe erschöpft zu meinem Quartier. Wasser flutet wieder über die Straße und das Tageslicht ist so schwach wie am Morgen.

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