piwik no script img

Trennungsängste

Wer die Wahl hat, muss sich entscheiden können: Am Ende eines Tages aber liegt man doch immer wieder daneben

Schon zu Tagesbeginn stehe ich vor der Wahl: Soll ich aufstehen oder liegenbleiben? Wahl bedeutet immer auch Entscheidung. Entscheidung bedeutet immer auch End-Scheidung, die endgültige Trennung von der Vernunft, der Wahrheit und dem Glück – man entscheidet immer falsch.

So ist es auch diesmal: Ich stehe auf. Zuerst mit dem rechten oder mit dem linken Bein? Gab es da nicht so eine komische Redewendung – irgendwas schlechtes mit dem linken Fuß und Aufstehen? Ich stehe mit dem rechten Bein zuerst auf und falle auf die Fresse, denn das rechte Bein schläft noch. Das linke Bein ist dagegen hellwach – wieder falsch! Wenn man nur zwei Dinge zur Auswahl hat, sieht man natürlich immer besonders blöd aus – da denkt sich der Laie: So schwer kann’s ja wohl nicht sein.

Jahaha, wenn man jetzt zwischen tausend Sachen hätte wählen müssen: Das geht ja gar nicht, das kann ja keiner, da wäre selbstredend jeder entschuldigt.

Also Frühstücken gehen. An der Bude habe ich die Wahl – Kümmerling oder Underberg, rote oder weiße Wurscht: Zwei mal die Wahl, zwei mal falsch – es ist wie verhext! Aber da hat es der Japaner zum Beispiel auch leichter, der die Frage der Fleischwahl einfach mit Walfleisch beantwortet. Ich könnte ja mal absichtlich falsch wählen, wider bestes Wissen und Gewissen, wo doch das beste Gewissen anscheinend eh nicht viel taugt: Soll ich gucken, bevor ich auf die Straße trete, oder nicht? Normalerweise hätte ich geguckt, also gucke ich diesmal nicht und werde von einem Radfahrer überfahren. Na also -– hätte ich geguckt, wäre ich vielleicht von einem Blumenlaster überfahren worden: Die Tendenz scheint zu stimmen. Trotzdem tut mir ganz viel weh. Dem Radfahrer auch. Was soll ich wählen – 110 oder 112? Wieder verwähle ich mich: Kein Anschluss unter dieser Nummer! War heute nicht Wahltag? Auf eine Wahl mehr oder weniger kommt’s bei mir nicht mehr an: Vom Wahlbüro des Lebens humpele in das Wahlbüro Leinestraße. Da kann ich zwischen tausend Sachen wählen – endlich ist mein Versagen voll und ganz entschuldigt. Soll ich das korrupte Arschloch wählen oder den sabbelnden Blödmann, die häkelnde Kriegstreiberin oder die farblose Doppelnull – egal, diese Wahl geht sowieso bei jedem schief. So auch bei mir – das merke ich in dem Moment, in dem der Zettel in der Urne verschwindet. ULI HANNEMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen