: Das Orakel von Berlin
Länger als erwartet berieten die SPD-Spitzenpolitiker über das Wahlergebnis in der Hauptstadt
von SEVERIN WEILAND
Es war der Chor der Vielstimmigen, der am Tag danach in der SPD erscholl. Soll sie nun oder soll sie nicht? Sie sollte zumindestens Verhandlungen ernsthaft prüfen, meinte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner. Der Kanzler, zugleich Parteichef, ließ durchblicken, dass ihm eine Ampel wohl lieber wäre. Rund drei viertel der Wähler und Anhänger der SPD hätte eine bestimmte Priorität zum Ausdruck gebracht, orakelte Gerhard Schröder, bevor er zur gestrigen Sitzung des SPD-Präsidiums im Berliner Willy-Brandt-Haus mit dem Fahrstuhl hinauffuhr. Flugs wurde wild spekuliert: Offenbar meinte Schröder eine ZDF-Umfrage, nach der eine deutliche Mehrheit der SPD-Wähler sich für die Grünen und die FDP als Koalitionspartner ausgesprochen hatten.
Dass Berlin eine „stabile Regierung“ brauche, klang aus dem Munde des Kanzlers schon eher wie ein Allgemeinplatz. Aufhorchen ließ dagegen seine Bemerkung, Berlin sei besonders auf die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung angewiesen – wollte er da der fast bankrotten Stadt mit dem Entzug von Finanzhilfen drohen? Doch kaum war der Satz ausgesprochen, schwächte er ihn sogleich ab, indem er hinzufügte: das Verhältnis beruhe auf Gegenseitigkeit.
Offenkundig war: Die SPD brauchte gestern mehr Zeit als sonst, um sich abzustimmen. Mit einer halbstündigen Verspätung traten Generalsekretär Franz Müntefering und Klaus Wowereit, Berlins Regierender, vor die Presse. Nur eine Farbenkombination, so viel scheint sicher, lockt Wowereit nicht: Rot-Rot mit einem grünen Tupfer. Er sehe nicht recht „den Sinner einer solchen Dreier-Koalition“, meinte er.
Mit seinem Vorbehalt steht Wowereit nicht allein da. Auch bei den Grünen war deutliche Skepsis zu hören – wenngleich sich auch hier Abneigung und Abwarten in ersten Stellungnahmen die Waage hielten. Während Spitzenkandidatin Sibyll Klotz eine Beteiligung an einem SPD-PDS-Senat ablehnte, wollte Landeschefin Regina Michalik dies nicht von vornherein ausschließen. Aus Kreisen der Führungsspitze war indes zu hören: „Was sollen wir in solch einem Bündnis? SPD und PDS handeln aus, und wir dürfen nur abnicken?“
Schon in den vergangenen Wochen war es für die Grünen zunehmend schwieriger geworden, sich gegenüber dem Partner zu behaupten – insbesondere nach dem 11. September auf dem Feld der Innenpolitik. Innerlich scheinen sich die Grünen auf harte Verhandlungen mit der FDP und der SPD einzustellen – wenn auch die Befürchtung besteht, dass die Sozialdemokraten nur zum Schein verhandeln, um um so ungenierter mit der PDS koalieren zu können.
Ein solches Bündnis hätte für die SPD durchaus Charme: Die sozialdemokratische Substanz der PDS in einer immer noch vom öffentlichen Dienst geprägten Stadt ist stark. Doch was, fragen sich manche in der SPD, wenn harte Einschnitte folgen müssen? Würde sich die PDS auf Kosten der Sozialdemokraten als wahres soziales Gewissen profilieren? Und vor allem: Würde der bundespolitische Krach in Zeiten des Anti-Terror-Kampfes nicht unweigerlich auf dem Senatstisch landen? Beides ist aus Sicht der SPD-Oberen möglich: die Disziplinierung der PDS, aber auch, von ihr vorgeführt zu werden.
Das sind Unwägbarkeiten, die die SPD vorerst zur Ampel neigen lässt. Das ist immerhin aus der Reihenfolge herauslesen, die Wowereit für die Sondierungsgespräche verkündete: Zunächst mit den Grünen, dann mit der FDP und schließlich mit der PDS. „Darauf sollten Sie achten“, hieß es gestern aus dem Führungskreis eines ostdeutschen Ministerpräsidenten.
Eine Vorentscheidung bedeutet das noch nicht. Nach außen hin verkündete Wowereit denn auch, er fühle sich durch die Äußerungen des Kanzlers „nicht festgelegt“. Ist die PDS also aus Sicht der SPD-Führung schon aus dem Spiel? Wohl noch nicht, folgt man den Ausführungen Müntefering. Vor 14 Tagen hatte er die PDS wegen ihrer Anti-Kriegs-Haltung als „Sicherheitsrisiko“ eingestuft – wenngleich, so meinte er gestern, sich seine Bemerkung „auf die Bundesebene bezog – wenn Sie richtig zugehört haben.“ Es gelte aber nach wie vor, dass auf der Länderebene eine Zusammenarbeit mit der PDS „möglich ist“. Das müsse „von Fall zu Fall, von Ort zu Ort“ entschieden werden. Schließlich mache eine Stadt ja keine Außen- und Verteidigungspolitik.
Wowereit ergänzte, man müsse als SPD „zur Kenntnis nehmen“, dass jeder zweite Ostberliner PDS gewählt habe. „Zur Kenntnis nehmen“ – das klang zurückhaltend und war auch wohl so gemeint. Denn für den Regierenden ist klar: Auch das bundespolitische Verhalten werde bei der Abwägung, mit wem man koaliere, „seine Berücksichtigung finden“.
Das eigentliche Problem für die SPD ist die FDP. Ihren Spitzenkandidaten Günter Rexrodt kenne er ja, meinte Wowereit, aber eben „nicht, wer hinter ihm steht“. So wird das Personal der FDP zu einer unbekannten Größe wie für die CDU die Schill-Partei in Hamburg. Gingen Grüne und SPD mit den wieder auferstandenen Liberalen eine Koalition ein, würde diese Ampel sich auf lediglich zwei Stimmen Mehrheit stützen. Es gibt manche Neulinge in der FDP-Fraktion, aber auch manche altbekannte – darunter zwei Abgeordnete, die Mitte der 90er-Jahre schon einmal im Abgeordnetenhaus saßen und für ihre Neigungen zum nationalliberalen Flügel bekannt waren.
Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, der mit den Stimmen der Grünen und der PDS ins Amt kam, scheint einer Zusammenarbeit mit der FDP zumindest nicht von vorneherein abgeneigt: Man sehe ja, verwies er auf das Beispiel der verflossenen großen Koalition in Berlin, dass eine „große Mehrheit instabil sein kann“ und „kleine Mehrheiten sehr haltbar“. Wichtig sei vor allem ein „Vertrauensverhältnis“ der Koalitionäre untereinander. Die Frage der nächsten Tage also lautet: Wer vertraut wem?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen