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Kunst + Leben

Harald Szeemann, geboren 1933 in Bern, studierte Kunstgeschichte in seiner schweizerischen Heimatstadt und an der Pariser Sorbonne – bei minimalem Bücherkontakt und maximaler Tuchfühlung mit dem Leben. Lieber traf er Leute, spielte Theater, entwarf Bühnenbilder und jobbte in einer Werbeagentur. Tastende Suchbewegungen in Richtung seiner wahren Berufung. Als er 1961 mit nur 27 Jahren Direktor der Kunsthalle Bern wurde, hatte er sie gefunden und machte in den achteinhalb Jahren seines Direktorats aus einem regionalen Kunsttempel ein weltweit beachtetes Kunstlaboratorium.

Wenn es der Annäherung an den Gegenstand zuträgt, ließ Szeemann bei der Wahl und Mischung der Exponate tradierte Genretrennungen immer schon links liegen. 1967 zeigte er in der Ausstellung „Science Fiction“ Joseph Beuys neben Plastikspielzeug und Horrorfilmplakaten. Auch bei „Monte Veritá. Berg der Wahrheit“ operierte er genreübergreifend und wollte Arbeiten des Jugendstilkünstlers Fidus in direkter Nachbarschaft zu einer Architekturskizze von Bruno Taut und einem Samtkleid der Ausdruckstänzerin Charlotte Bara gesehen und verstanden wissen. „Das, was denkt, ist eben nicht etwas anderes als das, was lebt“, darf man ihm in Umkehrung von Benns Diktum als Haltung unterstellen.

Szeemanns Ausstellungstätigkeit ist keine Kunst für die Kunst, sondern immer auch sinnlich-ästhetische Aufarbeitung von Utopien, Weltentwürfen, auch exzentrischer Lebenspraxis. Seit er nach seinem Weggang von der Kunsthalle Bern seine Ideen und Konzepte als vogelfreier Ausstellungsmacher zu Markte trägt, firmiert er in vorbildlicher Demut als „Agentur für geistige Gastarbeit“. Er ist deren einziges Mitglied und tätig im Dienste eines ebenfalls von ihm erdachten „Museums der Obsessionen“.

In seiner Anfangszeit führten Szeemanns Ausstellungen regelmäßig zu Skandalen. So karrten Berner Bürger über Nacht einen Misthaufen vor die Kunsthalle, um ihre Meinung über die „Science Fiction“-Schau kundzutun. Heute ist die Praxis eines erweiterten Kunstbegriffs zu einem Standard moderner Museumsarbeit geworden. Was sich nicht nachmachen oder demokratisieren lässt, ist Szeemanns Gespür für Qualität, sein Instinkt für Bilder, für die Aktualität von Kunst und Künstlern, als Schlüssel für den unverwechselbaren Mehrwert der von ihm kuratierten Veranstaltungen.

Seit fünf Jahren unterrichtet Szeemann an der von Mario Botta initiierten neuen Tessiner Architekturakademie Mendrisio. Im Winter erscheint im Springer-Verlag Wien ein Katalog aller von Szeemann kuratierten Ausstellungen: „with by through because towards despite“, herausgegeben von Tobia Bezzola und Roman Kurzmeyer. Und natürlich macht er weiter.

Die bekanntesten seiner über zweihundert Ausstellungen: 1964: Ex Voto, Gelöbnisbilder; 1969: When attitudes become form; 1970: Happening und Fluxus; 1972: documenta V, Kassel; 1974: Großvater; 1975: Junggesellenmaschinen; 1983: Der Hang zum Gesamtkunstwerk; 1995/96: Illusion, Emotion, Realität. Hundert Jahre Kino; 1999 und 2001: Biennale Venedig.

Viele Exponate, die Harald Szeemann in seinen Monte-Verità-Schauen zeigte, sind bis zum 24. Februar 2002 in der Ausstellung „Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Kunst und Leben um 1900“ im Institut Mathildenhöhe Darmstadt zu sehen. Es erscheint ein zweibändiges Katalogwerk im Häusser Verlag, Darmstadt, 168 Mark. NIKE BREYER

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