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■ Das Neue Museum Weserburg gibt sich bibliophil: „Malerbücher – Künstlerbücher“

Stehen Leseratten und Bücherwürmer bald auf der Roten Liste der aussterbenden Arten? Glaubt man den Medienpropheten, die lauthals das Ende der Gutenberg-Galaxis verkünden, sind Bücher bald eine Reminiszenz an ein versunkenes Zeitalter. Nur weißhäuptige verschrobene Bibliophile werden sich in Zukunft noch die Finger lecken und andächtig Seite um Seite in verstaubten Folianten umblättern. Zeit also für eine Bilanz des Mediums aus Sicht der bildenden Kunst.

Das Neue Museum Weserburg spannt einen Bogen von den Malerbüchern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – noch in der langen Tradition der illustrierten Bücher stehend – bis zu neueren Künstlerbüchern. Der Rundgang beginnt mit den üblichen Verdächtigen der klassischen Moderne: farbtrunkene Illustrationen von Matisse, Chagall und Miró; streng Symmetrisches der russischen Konstruktivisten. Reagiert der Museumsleiter Thomas Deeke mit dieser Auswahl auf den Vorwurf, „dass unsere Ausstellungen nicht schön, sondern schwierig sind“? Will sich das Neue Museum Weserburg zukünftig populärer geben?

Das wäre schade. Denn die Auswahl der aktuelleren Künstlerbücher verspricht zwar wenig Sinnenfreude, macht aber dennoch Spaß. Wird dem Besucher ein Hintergrund angeboten – in jedem Raum liegen Handzettel bereit – kann er leicht auch die vermeintlich schwierigen Arbeiten goutieren, die die selbstreflexive Wende der internationalen Kunstszene der letzten Jahrzehnte spiegeln. Dieter Roths quadratblatt zum Beispiel besteht aus Schnipseln der Daily Mirror, die der Fluxuskünstler stark vergrößert in einer Mappe zusammengefasst hat. Wer das weiß, kann sich – next step – über die grafische Qualität von Textzeichen oder die Sabotage der Autorschaft den Kopf zerbrechen.

Das gleiche gilt für Forty Found Fakes, mit denen Ernst Caramelle bekannten Künstlern Werke unterschiebt, indem er ihren Stil imitiert: Ein Foto von Helmut Schmidt, Walter Scheel und Valéry Giscard d'Estaing, die unter einer Markise mit den für Daniel Buren typischen Streifen stehen, schreibt er so nicht sich, sondern Buren zu. Und die „sechzig besten Versuche“, die John Baldessari von seiner Aktion Throwing three balls in the air to get a straight line präsentiert, lassen sich als Einladung verstehen, die Rolle des Betrachters zu reflektieren: Schließlich bilden drei Bälle von einem bestimmten Standpunkt aus immer eine gerade Linie.

Für ewig gestrige Bücherfreunde, die gern Gehirnakrobatik betreiben oder mit den Augen schmausen wollen, ist das Museum Weserburg in den nächsten Wochen die richtige Adresse. Auch Digital-Junkies könnten mal vorbeischauen. Bildschirme sind einfach nicht so sexy wie Bücher.

Peter Ringel

„Malerbücher – Künstlerbücher“. Im Neuen Museum Weserburg vom 28. Oktober bis 6. Januar

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