Schily und die Schläfer

Die meisten Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus taugen nicht. Wer so tut, als ob es absolute Sicherheit geben könnte, verkauft die Menschen für dumm

Die Polizei ist angesichts der Allzuständigkeit, die ihr die Politik aufbürdet, heillos überfordert

Terror stärkt den Staat und entwertet Freiheitsrechte. Derzeit kann niemand ausschließen, dass weitere Terroranschläge geplant und gegen die Zivilbevölkerung verübt werden. Mit diesen Folgen des 11. September sind wir gegenwärtig konfrontiert.

Die neue Gefahrenlage unterscheidet sich in einigen Punkten von den bisherigen Bedrohungsszenarien: vom eher berechenbaren Linksterrorismus, der sich gezielt gegen Führungskräfte aus Staat und Wirtschaft richtete, von der organisierten Kriminalität, deren Todesopfer zumeist in der Halb- und Unterwelt zu verzeichnen sind, von Rechtsextremismus und rechter Gewalt, die sich vornehmlich gegen Ausländer und Angehörige anderer sozialer Minderheiten richten – der Anschlag auf das Oktoberfest im Jahr 1980 war eine Ausnahme. Dass religiös-fanatische Selbstmordattentäter, die hier zuvor vollkommen unauffällig lebten, ihre Anschläge in massenmörderischer Absicht mit hoch technologischen Mitteln gezielt gegen die Zivilbevölkerung richten, ist eine neue Qualität. Und wirft sicherheitspolitische Fragen auf:

1. Kann diese neue Gefahrenlage mit den geltenden Gesetzen und den zur Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität bereits erweiterten Sicherheitsmaßnahmen bewältigt werden?

Unsere „innere Sicherheit“ beginnt wahrlich nicht bei Null, sondern befindet sich auf einem hohen Niveau. Die Bundesrepublik kennt ein ausdifferenziertes System von Anti-Terror-Regelungen mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste, die Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsunabhängige „Schleierfahndungen“, eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten, darunter der „große Lauschangriff“ in und aus Wohnungen; nicht zu vergessen die seit Jahren verschärfte Ausländerüberwachung, geheim-präventive Ausforschungsmethoden vom eingeschleusten verdeckten Ermittler über angeworbene V-Leute bis hin zum Agent provocateur. Wir haben also bereits eine große Fülle von teilweise hoch problematischen Regelungen, angelegt auf Vorrat – sozusagen für den ganz normalen Ausnahmezustand. Bislang konnten die Sicherheitspolitiker nicht darlegen, dass sich diese Maßnahmen in der allgemeinen Terrorbekämpfung als erfolgreich erwiesen hätten, und eine unabhängige Überprüfung findet nicht statt. Fest steht jedenfalls, dass weder die einzelnen Eingriffsbefugnisse noch die mittlerweile erreichte hohe Kontrolldichte dazu geführt haben, verdeckte massenmörderische Gefahren in Gestalt von „Schläfern“ zu erkennen.

2. Gibt es trotz dieser Entgrenzung polizeilicher und geheimdienstlicher Befugnisse also gravierende Sicherheitslücken und Gesetzesdefizite in jenem Ausmaß, wie es die Anti-Terror-Pakete nahe legen?

Manche dieser Maßnahmen liegen in der Logik der bekannten, rechtsstaatlich problematischen Anti-Terror-Gesetze wie deren Ausweitung auf ausländische „terroristische Vereinigungen“ mithilfe eines neuen § 129 b StGB. Andere dienen der allgemeinen Effizienzsteigerung, etwa der geplante Datenverbund von Geheimdiensten und Polizei, oder bergen ein gesteigertes Überwachungspotenzial, ohne dass ein direkter Bezug zum proklamierten Kampf gegen den Terrorismus erkennbar wäre.

Ein Beispiel für die überschießenden Tendenzen ist die geplante Erfassung biometrischer Daten in Ausweispapieren, also von körperlichen Merkmalen wie Finger- und Handabdruck, Gesichtsgeometrie (Kinnbreite, Augenabstand, Stirnhöhe), Augenfarbe, Irismerkmale. Alle, die einen Pass oder Personalausweis beantragen, müssten sich biometrisch vermessen lassen.

Gegen Fälschungssicherheit und sichere Identifizierung ist aus Datenschutzsicht nichts einzuwenden – mal abgesehen davon, dass auch damit unauffällige Schläfer mit im Ausland ausgestellten Personalpapieren wohl nicht entdeckt, die Attentate nicht verhindert worden wären. Trotz angeblicher Fälschungssicherheit der gültigen Ausweise kommt es gelegentlich doch zu Fälschungen oder Fehlidentifizierungen. Im Zweifel dürfte für solche Fälle eine zusätzliche Sicherung, etwa ein dreidimensionales Hologramm-Ausweisfoto, vollkommen ausreichen.

Otto Schilys Vorlage schießt weit über das Ziel der Terrorismusbekämpfung hinaus und dürfte weder mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip noch dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vereinbar sein. Denn mit der biometrischen Totalerfassung der Bevölkerung würde bundesweit eine digitale Ausgangsbasis entstehen, die für weit reichende polizeiliche Überwachungsmaßnahmen und Abgleichsverfahren nutzbar wäre: So könnten etwa Tatortspuren elektronisch mit den biometrischen Referenzdaten verglichen werden, so dass auch völlig unbescholtene Personen in den Kreis der Tatverdächtigen geraten, die dann gegenüber den Ermittlern ihre Unschuld nachzuweisen hätten. Durch eine solche Vorratsspeicherung würden alle erfassten Menschen zu potenziellen Sicherheitsrisiken erklärt. Mit gezielter Terrorismusbekämpfung hat dies nichts mehr zu tun.

Seit dem 11. September zeigt sich erneut:Terror stärkt denStaat und entwertet Freiheitsrechte

3. Kann das mit den Sicherheitspaketen verbundene Sicherheitsversprechen überhaupt eingelöst werden, und sind die bürgerrechtlichen Kosten der Maßnahmen nicht zu hoch?

Nur in wenigen Fällen haben die Rechtspolitiker plausibel dargelegt, dass die Vorhaben zur Bekämpfung dieser Art von Terrorismus tauglich sein können. Dazu gehören Maßnahmen zur Erhöhung der Flugsicherheit, zur Kontrolle internationaler Geldströme, möglicherweise auch die Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht. Doch vollkommen unverdächtige Selbstmordattentäter hätten auch mit den weiter gehenden Regelungen wohl kaum enttarnt werden können. Wir haben es hier mit Verhaltensweisen zu tun, die auch mit einer noch so verfeinerten Präventionsstrategie nicht ohne weiteres hätten erfasst werden können, es sei denn durch Kommissar Zufall – oder aber mit polizeistaatlicher Willkür? Selbst die Gewerkschaft der Polizei fürchtet angesichts des zu beobachtenden Sicherheitsaktionismus um die „Bürgernähe der Sicherheitskräfte“. Statt der Polizei immer neue Befugnisse zuzumuten, sollte man die Ressourcen der Polizei angemessen verstärken – zumal sie angesichts der faktischen Allzuständigkeit, die ihr von der Sicherheitspolitik aufgebürdet wird, längst heillos überfordert ist.

In keiner Gesellschaft gibt es absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt – schon gar nicht in einer hoch technisierten Risikogesellschaft und auch nicht in einer liberalen und offenen Demokratie; und schon gar nicht vor Selbstmordattentätern, wie das Beispiel Israel zeigt. Es grenzt an Volksverdummung, wenn die herrschende Sicherheitspolitik gerade diese Omnipotenz suggeriert – derweil die staatliche Hochrüstung selbst zu einer Gefahr für die Bürger und ihre Grundrechte, der Sicherheitsminister selbst zum Sicherheitsrisiko wird. ROLF GÖSSNER