Mein wunderbarer Postkolonialwarenladen

Die Weltmusik-Wandermesse WOMEX machte in diesem Jahr in Rotterdam Station, doch die Musik der niederländischen Migranten blieb vor der Tür. Dafür schaute David Byrne mal vorbei, und es wurde viel debattiert: über Krieg und Zensur, und über die französische Dominanz im Weltmusik-Sektor

von MEIKE REIJERMAN
und DANIEL BAX

„Krieg“, meint die Bosnierin Amila Ramovic, „ist auch eine akustische Erfahrung. Nicht jeder, der Bombardements erlebt, ist selbst betroffen oder sieht Tote und Verletzte. Aber jeder hört die Flugzeuge nahen und das Krachen der Einschläge und spürt die Angst.“ Musik habe während der vierjährigen Belagerung ihrer Heimatstadt Sarajevo eine wichtige soziale Rolle gespielt. „Hunderte von Rockbands“ hätten sich damals zusammengefunden, und auch die Konzerte des Philharmonie-Orchesters und das Theater seien immer voll gewesen – trotz der Gefahr, die es barg, überhaupt aus dem Haus zu gehen.

Die 24-jährige Musikpädagogin war zur Weltmusik-Messe WOMEX nach Rotterdam gereist, um die Werbetrommel zu rühren für ein Musiktherapie-Zentrum, das in Sarajevo entstehen soll. Sie fügte sich damit gut in eine Veranstaltung, bei der viel die Rede war über Krieg und Musik. Während Amila Ramovic erzählte, konnte man durch die breite Fensterfront auf das Panorama von Rotterdam blicken, das, im Weltkrieg fast völlig zerstört, danach sehr rechteckig wieder aufgebaut wurde, mit breiten Straßen und hohen Glasblöcken. Und im verschachtelten Kongresszentrum De Doelen präsentierte sich die Organisation „freemuse“, die sich für Musik als Menschenrecht einsetzt, gegen Zensur und Verfolgung (www.freemuse.org).

In Kabul und Kandahar jedenfalls kann man sich nicht mit Musik vom Krieg ablenken, seit die Taliban vor Jahren einen totalen Bann verfügten. Der Musikologe John Bailiy berichtete über die Situation der afghanischen Musik, deren Interpreten außerhalb ihres Stammlandes ein weitmaschiges Netzwerk bilden, das nun die Traditionen in die Zukunft trägt. Einer von ihnen ist der Rubab-Spieler Khaled Arman, der abends in einem Club seinen „Kabul Workshop“ vorstellte. Doch sein Fusion-Versuch floppte – vor allem aufgrund seines Partners Francesco Russo, dessen Keyboard-Exzesse nur Kopfschütteln ernteten.

Mehr Glück im Exil hatten jene afrikanischen Musiker, die an dem Album „Refugee Voices“ mitgewirkt haben, das von der UN-Flüchtlingshilfe gesponsert wurde und dessen Erlöse nun anderen Künstlern im Exil zukommen sollen. Musiker aus neun afrikanischen Kriegsländern wie dem Sudan, Liberia, Somalia und Angola trafen sich dafür im Studio von Youssou N’Dour in Dakar; eine Dokumentation über das Zusammentreffen wurde weltweit ausgestrahlt.

Doch auch auf einer Weltmusik-Messe geht es nur am Rande um Altruismus, im Mittelpunkt steht das Geschäft. Die Nase vorn hat dabei Frankreich, das aus seiner kolonialen Vergangenheit mehr Kapital zu schlagen versteht als etwa Großbritannien. Während die Franzosen pünktlich zur WOMEX ein dickes Verzeichnis mit Weltmusik made in France auf den Tisch legten, das sich wie ein Who’s who der großen Namen liest, fühlen sich die englischen Weltmusik-Enthusiasten allmählich fremd im eigenen Land. Cesaria Evora, Manu Chao oder der Buena Vista Social Club erobern von Paris aus den Kontinent, doch in London bleiben sie Exoten. Nur der Sprachbarriere wegen? Marie-Agnès Beau vom Exportbüro zog eine Linie zwischen Politik und Pop-Kultur, indem sie den französischen Erfolg als Resultat gelungener Integration pries, während sie England Ethno-Separatismus vorwarf. Dass dies nicht nur die Weltmusik betrifft, sondern auch populäre „schwarze“ Stile wie Reggae, R’n’B und HipHop, die, gemessen an ihrer tatsächlichen Relevanz, eher stiefmütterlich behandelt würden, meinte sogar John Kieffer vom British Council. Der Preis dieses „insularen Denkens“ sei, den Anschluss an den Rest der Welt zu verpassen, befürchtete er, und nannte alarmierende Zahlen: Hätte der britische Anteil am US-Markt vor zehn Jahren noch bei 30 Prozent gelegen, so dümpele er heute unter einem Prozent! Doch obwohl man mit unverkauften Oasis-CDs längst den Ärmelkanal auffüllen könnte, wartet man dort noch immer auf die nächsten Beatles. Nur was, wenn die nächsten Beatles keine vier Mittelschichts-Jungs sind, die Gitarre spielen?

Aber auch in den USA hat man es nicht leicht als Prophet der musikalischen Globalisierung – wie David Byrne, der eigens nach Rotterdam kam, um den Auftritt der mexikanischen Band Los de Abajo, Schützlinge seines „Luaka Bop“-Labels, zu flankieren. Der Besuch des Mister Byrne war der heimliche Höhepunkt einer ansonsten eher ereignisarmen WOMEX, und die Art, wie die Pressekonferenz mit Los de Abajo abgehalten wurde, beeindruckte durch No-Nonsense-Professionalität: Erst stellte die PR-Dame der Band ein paar Fragen, während auf Dias lustige Pressefotos eingeblendet wurden, denn referierte David Byrne über die kommenden „Luaka Bop“-Veröffentlichungen. Auch Byrne hat übrigens Frankreich entdeckt und bringt demnächst eine Compilation junger Bands der „Post-Chanson-Reggae-Rai-Generation“ heraus. Noch fehle ihm ein besserer Begriff für das Genre, bedauerte er. „Wie wäre es mit Nouvelle Vague?“, witzelte jemand aus dem Publikum. „Oder French Touch?“

„Insulares Denken“ gibt es aber auch in der letztlich doch sehr kleinen Weltmusik-Szene. Dass auf ihrem alljährlichen Branchentreffen immer die gleichen Gesichter zu sehen sind, die dafür gleich mehrere Rollen ausfüllen – Musiker und Labelchef oder Journalist und Festivalleiter in Personalunion –, spricht für sich. Dass sich der Kontakt zur Außenwelt meist auf die kulinarische Erkundung des Terrains beschränkt (das in Holland besonders karg bestellt war), trägt schon autistische Züge.

Dabei hätte Rotterdam, eine ausgesprochene Migranten-Hochburg, in dessen tropischen Diskotheken zu R’n’B genauso getanzt wird wie zu Salsa und Zouk, einiges zu bieten gehabt. Besonders enttäuschend fiel aber gerade der musikalische Schwerpunkt der WOMEX aus, den in diesem Jahr die Benelux-Länder stellten. Rein zahlenmäßig ist die Bedeutung der Einwanderer aus Surinam, den Antillen, aus Indonesien und Marokko groß: So leben in den Niederlanden so viele Menschen aus Surinam wie in der Exkolonie selbst, und bis vor kurzem besaßen alle Bürger der niederländischen Antillen noch einen Pass des Königreichs. Doch der Zugang zu diesen Szenen fällt den Holländern offenbar so schwer wie der Umgang mit ihrer kolonialen Vergangenheit.

So blieb das Stil-Potpourri der Migranten mal wieder draußen vor der Tür: Weder Kaseko und dessen Altmeister Carlo Jones noch Kawina, die populärste Musik der jungen „Surinaamers“, zu der sich Bands wie La Rouge, La Caz und all die Vorstadt-Kids die Hände wundtrommeln, war ein Showcase wert. Stattdessen konnte man auf den diversen Konferenzpanels mehr weiße Holländer reden als Musik der Minderheiten spielen hören.

Selbst Vincent Henar, dessen Jazz-Kapelle Fra Fra Sound als einzige Vertreter Surinams eingeladen wurde, zeigte sich erstaunt: „Natürlich bin ich froh, hier zu spielen. Aber was wir machen, ist Jazz. Es wundert mich, dass nicht Izaline Calister von den Antillen, Ronald Snijders oder die Band Yakki Famirie aus Surinam ausgewählt wurden.“ Noch seltsamer, dass ausgerechnet eine kapverdische Sängerin aus Portugal eingeladen wurde: Immerhin lebt in Rotterdam die größte kapverdische Gemeinde außerhalb der Inseln, von hier stammt der größte Teil der kapverdischen Musikproduktion.

Dafür gab es bei den Club-Nächten diesmal viele DJ-Projekte zu hören, und viel Elektronik. Der Gig der Brazilelectro-Band Zuco 103 aus Amsterdam vermochte am Ende noch ein wenig versöhnlich stimmen. Und auf dem Nachhauseweg konnte man einen einsamen Musiker in der Fußgängerzone hören, der auf seinem Akkordeon die Lambada-Melodie spielte. Auch das ist Weltmusik, natürlich.