mein lieblingsjesus von WIGLAF DROSTE
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Als Kind war ich so mager, dass ich manchmal Biafra genannt wurde. Ich konnte auch gut Bodenturnen, aus der Brücke in den flüchtigen Handstand und so was, sodass ich bei manchen auch Gummimännchen hieß. Ein anderer Spaß war das Vorgelesen-Bekommen, Grimms Märchen, Wilhelm Busch, Emil und die Detektive und manchmal auch etwas aus der Bibel: ein netter Mann, der von gar nicht netten Männern in einen Brunnen gestopft wurde, solches Zeug, nicht zum gläubisch werden, sondern mehr als historisches Abenteuer. Geglaubt werden musste zu Hause nicht, der liebe Gott hatte bei uns nicht viel zu tun und konnte sich um andere kümmern, die ihn nötiger brauchten.

Im Kindergottesdienst lernte ich Jesus kennen, einen komischen Kerl auf einem Esel, der später ans Kreuz gehauen wurde. Das fand ich gemein. Jesus tat mir Leid, war mir ansonsten aber egal. So richtig klasse war der nicht, es fehlte wohl der Glamour. Erbärmlich dünn und märgelig hing er am Kreuz herum, und ich dachte immer, der könnte doch wirklich endlich mal nach Hause gehen. Später erwärmte ich mich für die Kitschästhetik von Puttenengeln und Marienbildern, aber Jesus hätte ich mir nie an die Wand gehängt; der Typ verbreitet einfach etwas Ungutes, Penetrantes.

In Mexiko liebäugelte ich mit dem Kauf eines Jesuskopfes, der mit einer Stacheldrahtkrone verziert war, in der rote Lichter blinkten; die vollkommen geschmacksferne Anbetung Gottes und der Seinen in südlichen katholischen Ländern scheint mir noch heute die angemessenste Art und Weise religiöser Verehrung zu sein. Der Protestantismus schafft das nicht; hier ist Jesus das Gespenst der Bulimie, eine Ikone des Verzichts, des stilisierten Mangels. Das macht keine Freude.

Das kreuzigungsfähige Alter habe ich unangenagelt überstanden, und ich musste 40 werden, bis ich einen Jesus nach meinem Herzen fand. Ausgerechnet in Brandenburg geschah es, in Groß Ziethen unweit Berlins. Groß Ziethen hat das bewährte Brandenburger Programm zu bieten: landschaftlich schön, menschenlandschaftlich eher nicht. Sogar die jungen Landwirte, die auf ihren Treckern durchs Dorf pümpelten, trugen die landesübliche politische Kurzhaarfrisur. Dennoch stieg ich aus dem Auto, um eine Kirche zu besichtigen und dort eine Kerze anzuzünden; ich weiß nicht warum, aber es scheint mir eine geeignete Maßnahme zu sein, dafür Sorge zu tragen, dass die Liebe nicht erlischt. Ich betrat die Kirche und sah IHN: Er sah aus wie ich. Er hatte unpolitisch kurze Haare, er hatte kräftige Oberschenkel und kräftige Waden, und er hatte einen Bauch. Ich stürzte auf ihn zu und fasste ihn an: rund und fest, yippieh! Jesus, Jesus so geht es doch auch: unverhärmt, tipptopp im Futter und gut durch den Winter gekommen. Zum Dank legte ich eine Lieblingskastanie auf den Altar, beugte das Knie und ging – auch ich eine Art Jesus. Für die Leserinnen und Leser dieser Kolumne habe ich eine schwere Last auf mich genommen: einen Tag in Brandenburg vollbracht.