„Wir sind nicht irgendwer“

Hans-Georg Moldenhauer, Zukunftsplaner des deutschen Fußballs und DFB-Vizepräsident, über die Situation („Das Potenzial ist da“) und Perspektiven („Imageverlust“) der Nationalmannschaft

Interview FRANK KETTERER

taz: Herr Moldenhauer, Ihr Präsidiumskollege im DFB, Franz Beckenbauer, hat kundgetan, dass er ein Fehlen der deutschen Nationalmannschaft bei der WM im nächsten Jahr schlichtweg für undenkbar hält. Wäre man nicht gut beraten, sich langsam, aber sicher mit dem Gedanken anzufreunden?

Hans-Georg Moldenhauer: Der Franz hat das wohl eher in dem Sinne gemeint, dass man in Deutschland nicht überlegen sollte, für den Neuaufbau der Nationalmannschaft freiwillig auf die WM zu verzichten. Das ist auch für mich undenkbar.

Deutschland ist nach wie vor im Fußball nicht irgendwer. Man erwartet einfach, dass die deutsche Mannschaft an der WM teilnimmt. Dafür müssen wir jetzt alles tun. Das Potenzial, gegen die Ukraine gewinnen zu können, ist auf jeden Fall da.

Andererseits kann gegen die Ukraine auch schnell verlieren, wer gegen Finnland nur unentschieden spielt.

Klar. Es ist aber unbestritten, dass der Fußball weltweit enger zusammengerückt ist. Man kann heute nicht mehr davon ausgehen, dass man gegen Finnland oder die Ukraine mit 3:0 oder 4:0 gewinnt. Recht geben muss ich Ihnen allerdings in dem Punkt, dass man durch das 0:0 gegen Finnland und die dabei gezeigte Leistung die Ukraine zusätzlich aufgebaut hat. Sonderlich zittern werden die nicht vor uns.

Warum eigentlich muss Deutschland bei Weltmeisterschaften immer dabei sein?

Es geht ja nicht ums Müssen. Man erwartet vielmehr, dass ein Land mit der Fußballtradition wie Deutschland dabei ist.

Wer erwartet das?

Die Fans zum Beispiel, die zu einer WM pilgern. Die wollen möglichst viele Spiele sehen: England gegen Brasilien oder Brasilien gegen Deutschland.

Welche Auswirkungen hätte ein Scheitern in der Qualifikation auf die Zukunft des deutschen Fußballs?

An erster Stelle wäre es ein weiterer Imageverlust. Außerdem bestünde die Gefahr, dass man, wenn wir erst einmal ganz unten im Tal angekommen sind, doch längere Zeit nicht mehr wieder herauskommt.

Könnte ein Scheitern nicht auch Positives mit sich bringen, weil dadurch endgültig deutlich würde, dass nur ein totales Umdenken, ein radikaler Schnitt also, langfristig Besserung bringen kann und nicht diese ewige Flickschusterei?

Das ist die Frage: Ob man ausgerechnet durch eine Nichtteilnahme davon wegkommen würde, was Sie Flickschusterei nennen? Heute steht man im Sport doch immer unter dem Druck des Gewinnen-Müssens, auch eine Nationalmannschaft im Neuaufbau bliebe davon nicht verschont. Da würde man doch auch im ersten Spiel schon wieder sagen: Ihr dürft spielen, wie ihr wollt – aber gewinnen müsst ihr natürlich.

Das bedeutet?

Ein Neuaufbau in aller Ruhe und ohne Druck ist heute doch gar nicht mehr möglich, WM hin oder her. Deswegen wäre das einzig Positive bei einer Nichtteilnahme, dass man nicht mehr länger davon ausgehen könnte, dass es automatisch immer wieder gut geht, bloß weil es bisher immer gut gegangen ist. Vielleicht wäre das ja tatsächlich eine heilsame Lehre: dass man wirklich erkennt, dass jeder Erfolg hart erstritten werden muss. Ob das zu einem ruhigen Neuaufbau führen würde, wage ich allerdings zu bezweifeln.

Sind dazu überhaupt die Spieler vorhanden? Gibt es hier zu Lande noch Talente wie früher Häßler, Overath, Schuster, Völler oder Rummenigge?

Ich glaube schon, dass es die gibt.

Wo, Herr Moldenhauer? In der Bundesliga?

Genau das ist unser Problem: Unsere jungen Talente haben in ihren Vereinen meist gestandene und gut bezahlte Stars, zum Teil sogar Weltstars vor sich und versauern hinter denen mehr oder weniger auf der Bank. Es stimmt doch bedenklich, dass sich ein junger Spieler seine Spielpraxis in der Nationalmannschaft holen muss, weil er in seinem Verein kaum eingesetzt wird. Da müssen wir den Hebel ansetzen, da müssen wir nach Wegen Ausschau halten, damit die Talente aus den Jugend-Nationalmannschaften auch in ihren Klubs Spielpraxis sammeln und sich profilieren können.

Wie wollen Sie das bewerkstelligen?

Indem junge Spieler zu Vereinen gehen, die auf der entsprechenden Position schwach besetzt sind, oder dass sie dorthin für eine bestimmte Zeit ausgeliehen werden. Das kann durchaus auch in der zweiten Liga sein, Hauptsache die Talente spielen.

Am besten so wie Sebastian Deisler?

Ja, er hat es in Berlin trotz seiner 21 Jahre geschafft. Aber es gab aus dem Jahrgang von Deisler auch zwei, drei andere Talente, denen man eine große Zukunft vorhergesagt hatte. Nur haben die zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbar den Sprung verpasst. Von denen hört man heute so gut wie nichts mehr.

Und der große Rest, so hat es der Cottbuser Trainer Eduard Geyer gerade festgestellt, „raucht, säuft und hurt wie die Nutten auf St. Pauli“.

Na ja, Eduard Geyer ist halt ein harter und konsequenter Mann, der alles für seinen Verein tut und das auch von seiner Mannschaft fordert. Seine Aussage mag für den einen oder anderen Spieler vielleicht sogar Gültigkeit besitzen, auf unseren Fußballnachwuchs aber trifft sie überhaupt nicht zu.

Immerhin wird Geyers These sogar von der Wissenschaft gedeckt. So brachte eine Studie an der Universität Paderborn ans Tageslicht, dass „jugendliche Vereinssportler in ihrem Alkoholkonsum keineswegs zurückhaltender sind als Nichtmitglieder“. Ist das nicht ein Problem der Einstellung?

Wir haben uns beim DFB auch mit dieser Studie von Professor Brettschneider aus Paderborn auseinander gesetzt. Im Grunde wollen all diese Leute, da zähle ich Brettschneider wie Geyer dazu, nur ein bisschen provozieren und dadurch auf Negativtendenzen aufmerksam machen. Natürlich haben sich die Zeiten geändert, und natürlich leben die Fußballtalente heute anders als die von früher. Aber es ist nun wirklich nicht so, dass sie ein Lotterleben führen. Ganz im Gegenteil: Die Jugend-Nationalmannschaften des DFB gelten überall, wo sie hinkommen, als Vorbild. Da trifft man keinen spät nachts an der Hotelbar an.

Andererseits ist es doch so: Wer zweimal einen Pass über 20 Meter genau zum Mann schlägt, trägt gleich ein Goldkettchen, träumt vom Porsche und erscheint zur nächsten Vertragsverhandlung mit Spielerberater. Wird im Fußball nicht zu früh zu viel Geld verdient?

Im Grundsatz haben Sie da wohl Recht: Es wird jungen Spielern viel zu viel Geld im Voraus bezahlt, quasi als Vorschuss für zu erwartende Leistung. Die wird dann später oft gar nicht erbracht, weil die jungen Spieler mit all dem Geld es gar nicht mehr nötig haben, sich anzustrengen und abzumühen.

Dietrich Weise, bis Sommer DFB-Nachwuchskoordinator, fordert, dass die Vereine mehr Verantwortung für die Nationalmannschaft übernehmen müssten. Wie könnte diese aussehen?

Indem auch die Bundesliga unsere Talente mehr fordert und fördert – und ihnen die Möglichkeit gibt zu spielen.

Nach dem letzten deutschen WM-Sieg 1990 in Italien hat Beckenbauer angekündigt, der gesamtdeutsche Fußball sei auf Jahre hinaus unschlagbar. Wie kann ein Mensch nur so irren?

Der Franz hat das damals während der Siegerehrung gesagt, ich kann mich noch gut daran erinnern. Als Präsident des DDR-Fußball-Verbandes DFV stand ich damals direkt neben ihm, und wie der Franz so ist, hat er gesagt: Jetzt sind wir schon Weltmeister und bekommen auch noch die DDR dazu – wer soll uns da noch schlagen? So richtig ernst aber hat er das wohl nicht gemeint, das war eher situationsbedingt.

Elf Jahre später muss diese Frage gestellt werden: Wer fährt denn nun zur WM 2002, Deutschland oder die Ukraine?

Deutschland. Wir haben ja nach wie vor gute Spieler. Die müssen das einfach nur mal zeigen.