: „Wer Visionen hat, soll zum Augenarzt“
Wie sich die grüne Partei der gereiften Visionäre zu Verhandlungen über eine Ampelkoalition durchgerungen hat
Es war für manchen Delegierten eine überraschende Nachricht, die Regina Michalik zu überbringen hatte. „Die FDP ist keine ansteckende Krankheit“, informierte die grüne Landesvorstandssprecherin ihre Basis über den Ausgang der Sondierungsgespräche mit den Liberalen.
So einige ihrer Parteifreunde, die Mittwochabend in Kreuzberg auf einem Parteitag über die Aufnahme von Verhandlungen über eine Ampelkoalition entscheiden mussten, wollten diese Botschaft freilich kaum glauben. Mitgliederstarke Kreisverbände wie Mitte oder Friedrichshain-Kreuzberg hatten schon im Vorfeld die Gespräche kategorisch abgelehnt. Zu groß war die Angst der Ampelgegner vor den Gegensätzen zwischen Grünen und Liberalen. Regelrechte Existenzangst zeichnete viele Redebeiträge aus: „Falls wir uns durch ein fünfjähriges Jammertal schleppen, werden wir nicht mehr existent sein“, warnte die Bezirksverordnete Miriam Scheffler aus Mitte vor dem vermeintlichen Unheil, das für viele Grüne in Gestalt des FDP-Fraktionsvorsitzenden Günter Rexrodt daherkommt. „Wir haben festgestellt, dass die FDPler auch Menschen sind“, polemisierte der ehemalige Abgeordnete Raimund Helms gegen die bisherigen Sondierungsrunden. Für ihn ist die Ampel nichts anderes als die Fortsetzung der großen Koalition. Ihr einziges Motiv sei der Ausschluss der PDS.
Der grünen Führung blieb zeitweise nur ratloses Kopfschütteln. „Wir haben nicht die Pflicht, der PDS an die Regierung zu helfen“, erinnerte die Spitzenkandidatin Sibyll Klotz. „Das stand in unserem Wahlprogramm nicht drinne.“ Es war der grüne Justizsenator Wolfgang Wieland, der dem Parteitag als einer der Letzten auf dem Podium noch einmal ins Gewissen redete. Als „Gründungsmitglied“ der Grünen warne er seine Partei davor, „aus Angst vor dem Erfolg politischen Selbstmord zu begehen“. Dies, so Wieland, „wäre ein Rückfall in infantile Züge, die wir zu Recht hatten, als wir es noch waren“. In der Hitze des Gefechts wurden selbst Einsichten beschworen, bei denen sich Petra Kelly im Grab umdrehen dürfte. „Wer Visionen hat, soll zum Augenarzt gehen“, zitierte etwa Johann Müller-Gazurek aus Steglitz-Zehlendorf den britischen Premier Winston Churchill.
Überraschend groß war die Zahl derer, die am Ende der mehrstündigen hitzigen Diskussion die grüne Stimmkarte für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen in die Luft hielten. Der Beschlussantrag, in dem die Grünen unter anderem die Zuständigkeit für den Bereich Stadtentwicklung zur Bedingung erheben, fand die Zustimmung von 90 Delegierten. 43 stimmten dagegen, 12 enthielten sich. Es war der Vorstandssprecher Till Heyer-Stuffer, der noch einmal die Quintessenz des Abends formulieren sollte: „Jeder kann sehen, wo unsere Bedenken sind.“
ANDREAS SPANNBAUER
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