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„Mehr Kaiserschnitte in Westafrika“

In den reichen Industrieländern machen sich Oberschichtfrauen Gedanken um ihren Liebeskanal, während viele Mütter in der Dritten Welt bei der Geburt sterben müssen, weil es keine Möglichkeiten für einen Kaiserschnitt gibt

„Preserve your love channel – take a cesarian“ (Erhalte deinen Liebeskanal, nimm einen Kaiserschnitt) – dieser Slogan kursiert seit längerem unter US-amerikanischen Müttern. Jede dritte privatversicherte Schwangere in den Staaten entscheidet sich inzwischen für einen Kaiserschnitt. Immer mehr Frauen tun es deshalb, weil sie um ihr Sexualleben fürchten: Bei einer normalen Geburt wird die Muskulatur des Beckenbodens gedehnt und manchmal ausgeleiert. Die Folgen: Angeblich weniger Empfindung beim Geschlechtsverkehr, auch die Schließmuskeln von Blase und Darm können nach einer Vaginalgeburt geschwächt sein.

Langzeitstudien dazu gibt es kaum, bemängelt Magdalene Weiß vom Bund Deutscher Hebammen. Wie sich eine Geburt individuell auf die Sexualität einer Frau auswirkt, lasse sich kaum vorhersagen. Hebammen würden auch von Frauen berichten, die nach einer Geburt ihre Sexualität „so erfüllend wie nie zuvor“ erlebt hätten. „Mit gezielter Beckenbodengymnastik und sportlicher Aktivität lassen sich etwaige Schäden normalerweise leicht wieder ausgleichen“, sagt auch Hans-Jürgen Kitschke vom Frauenklinikum Offenbach.

Dass Frauen mit einem Kaiserschnitt ihrem Intimleben etwas Gutes tun, sei keineswegs bewiesen: „Viele haben nach einer Schnittgeburt oft Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl“, sagt Hebamme Weiß. „Es kann lange dauern, bis sie sich in ihrem Körper wieder zuhause fühlen.“

Noch andere Dinge könnten auf der Strecke bleiben: Hebammen weisen darauf hin, dass bei einem Kaiserschnitt die erste sensible Phase der Begegnung zwischen Mutter und Kind – das sogenannte Bonding – nicht ungestört ablaufen kann. Nachdem das Kind aus der Gebärmutter geholt worden ist, werden Mutter und Kind getrennt versorgt. Eine unmittelbare Nähe wenige Sekunden nach dem ersten Schrei ist nicht möglich. „Damit verzichten Eltern auf etwas unglaublich Schönes“, sagt Kitschke. „Ich habe es noch nie erlebt, dass Mutter oder Vater bei einem Kaiserschnitt weinen – während bei einer normalen Geburt meist die Freudentränen fließen.“ Werdende Mütter und Väter würden oft alles Mögliche tun, um ihr Baby schon vor der Geburt emotional zu beeinflussen. Zum Beispiel lassen sie es schon im Embryonalstadium klassische Musik hören. „Und zur Welt kommt das Kind dann mit dem Skalpell – das widerspricht sich doch.“

Während kritische Stimmen in Europa und den USA vor einer nach oben schnellenden Zahl von Schnittgeburten warnen, sorgen sich Gesundheitswissenschaftler um die Geburtshilfe in Entwicklungsländern. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt eine Kaiserschnitt-Rate von 10 bis 15 Prozent: Bei rund jeder zehnten Geburt ist ein Kaiserschnitt also nötig, um Mutter oder Kind zu retten.

In vielen Ländern der Dritten Welt wird diese Zahl nicht einmal annähernd erreicht. Eine aktuelle Studie französischer Statistiker im Fachblatt Lancet (Bd. 358, S. 1328, 20. Okt. 2001) hat die Geburtshilfe in Westafrika in den letzten dreißig Jahren unter die Lupe genommen. Nur 1,3 Prozent aller westafrikanischen Frauen bekamen einen Kaiserschnitt, obwohl mindestens fünf von hundert die Operation gebraucht hätten. Schlechte Infrastruktur, Mangel an entsprechend ausgebildetem Personal, aber auch kulturelle Barrieren spielen dabei eine Rolle. Viele Schwangere würden lieber ihr Leben risikieren, als per Kaiserschnitt zu entbinden.

Was für Frauen der Oberschicht in Industrieländern zum Statussymbol wird, gilt dort als Zeichen von Versagen bei der Fortpflanzung. „Mehr Kaiserschnitte in Westafrika“, fordert der Gynäkologe Friday Okonofua von der University of Benin in Nigeria deshalb in einem Kommentar zu der französischen Studie. Denn während in Nordeuropa eine von viertausend Müttern bei der Geburt stirbt, lässt in Westafrika jede zwölfte Frau ihr Leben.

EVELYN HAUENSTEIN

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