Im Umgang mit Perücken nicht geübt

Die Wirklichkeit als schönstes Zeugnis für die Möglichkeit: Angela Merkel muss erst zu sich selbst finden, bevor sie an der Spitze der CDU bestehen kann. Ein Theaterabend mit Johann Nestroys Wiener Posse „Der Talisman“ könnte helfen. Als ostdeutsche Frau darf sie ihr liberales Profil ruhig stark machen

von RALPH BOLLMANN

Angela Merkel hatte sich solche Mühe gegeben. Je mehr die eigene Partei mit der Frau aus dem Osten fremdelte, desto mehr führte sich die Physikerin auf, als zählte sie selbst zu jenen konservativen Juristen aus dem Westen. Wider besseres Wissen vertagte sie die Parteireform, ging auf Konfrontationskurs zur Bundesregierung, zog am Ende mit dem Ruf nach der Bundeswehr im Inland an allen rechts vorbei.

Es hat nichts geholfen. Aus den konservativen Bastionen im Süden schallt die Kritik lauter denn je. Prompt schob die Bild-Zeitung das Frauenthema diese Woche wieder in den Vordergrund – und titelte: „Machen die Männer Angela Merkel kaputt?“ Der mitleidige Unterton macht die Sache nur noch schlimmer. Jetzt muss die CDU-Chefin nur noch darauf warten, dass irgendjemand fragt: „Machen die Wessis Angela Merkel kaputt?“

Der CDU-Vorsitzenden ergeht es wie dem rothaarigen Titus Feuerkopf in Johann Nestroys Wiener Posse „Der Talisman“. In einer Gesellschaft, die Rothaarige diskriminierte, stülpt sich Nestroys Held eine schwarze Perücke über wie Angela Merkel ihre ultrakonservativen Positionen. Und siehe da: Jener Titus Feuerkopf, dem bislang niemand etwas zutraute, macht plötzlich Karriere.

Doch irgendwann durchschauen die Betrogenen das Spiel. Da taucht auf einmal jemand auf, der den Schwarzhaarigen noch aus der Zeit des roten Kopfschmucks kennt. Und Titus selbst, den Umgang mit Perücken nicht gewohnt, greift versehentlich zum blonden Exemplar – ganz so, wie sich Merkel mit ihrem Vorstoß in Sachen Bundeswehr vergriffen hat. Es kommt, wie es kommen muss: Der Betrüger wird enttarnt. „Das stolze Gebäude meiner Hoffnungen“, stellt er ernüchtert fest, „ist assekuranzlos abgebrannt.“

Ist das Stück mit Angela Merkel in der Hauptrolle, wie die Parteirechte glaubt, damit schon zu Ende? Wenn Nestroy Recht behält, dann fängt es jetzt erst an. „Ja, ich bin rot“: Dieser Ausruf wird für Titus Feuerkopf zum Akt der Befreiung – ganz ähnlich, wie sich der Berliner Bürgermeister mit dem Halbsatz „. . . und das ist auch gut so“ bundesweit beliebt machte.

Für den Nestroy-Helden ist das Bekenntnis zu den roten Haaren der Beginn des wahren Glücks. Die Frage, wie es ein Rotschopf so weit bringen konnte, erklärt er den erstaunten Mitmenschen ganz selbstbewusst: „Wirklichkeit ist immer das schönste Zeugnis für die Möglichkeit.“

Wie es scheint, hat die CDU-Vorsitzende ihren Fehler jetzt bemerkt. Die letzten Wochen haben klar gemacht: Egal, wie weit die Parteichefin ihre Selbstverleugnung treibt – die Loyalität eines Michael Glos oder Erwin Teufel wird Merkel nie gewinnen. Und Wolfgang Schäuble hat mit seinem Schweigen in der Kandidatenfrage gezeigt, was seine Nachfolgerin von ihm zu halten hat.

„Merkel bleibt Merkel, mit allen Risiken und Nebenwirkungen“: Mit dem feuerköpfigen Bekennermut des Nestroy-Helden trat Merkel noch im Herbst 2000, ein halbes Jahr nach ihrer Wahl zur CDU-Chefin, vor die Delegierten der bayerischen Schwesterpartei. Ein Jahr später holte sie sich bei der CSU, diesmal mit einer weit braveren Rede, eine herbe Abfuhr.

Offenbar bedurfte es erst dieser offenen Brüskierung, damit Merkel zu altem Kampfesmut zurückfand. So kämpferisch geriet am vorigen Wochenende ihre Rede auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen Union, dass die meisten Zeitungen ein paar Tage brauchten, bis sie sich in gewohnter Häme über das „Machtwort Nr. 537“ mokieren konnten.

Inzwischen bleibt der CDU-Vorsitzenden auch gar keine andere Wahl, als offen um die Kanzlerkandidatur zu kämpfen. Es war just der CSU-Rechtsaußen Michael Glos, der als Erster über einen Wahlkampf mit Wolfgang Schäuble sprach und damit Angela Merkels Coming-out in der Kandidatenfrage beförderte. Schon bei Nestroy bringen gerade die ärgsten Rothaar-Hasser den armen Titus Feuerkopf in eine Lage, die ihn zum befreienden Bekenntnis zwingt.

Wenn Angela Merkel nicht nur Kandidatin werden, sondern auch noch ein paar Stimmen holen will – dann reichen Machtworte allerdings nicht aus. Dann braucht sie auch ein politisches Profil. Setzen sich bei der CDU wieder die geistigen Perückenträger der Kohl-Ära durch, dann wäre Merkel in der Tat die falsche Kandidatin. Dann wäre die Union gut beraten, schon jetzt Roland Koch ins Rennen zu schicken. Wer, wenn nicht er, könnte die Bedürfnisse eines ressentimentgeladenen Milieus bedienen, in dem der Konservativismus alten Stils gedieh – und unter dem schon Titus Feuerfuchs zu leiden hatte?

Doch wir leben nicht mehr in Nestroys Biedermeier. Wahlen werden in der Bundesrepublik nicht mit der Nabelschau im eigenen Milieu gewonnen, sondern in der gesellschaftlichen Mitte. Dass die CDU ab den Siebzigern zur Macht zurückfand, verdankte sie nicht der Fähigkeit zum Aussitzen, die Helmut Kohl in späteren Jahren entwickelte.

Sie verdankte es Köpfen wie Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler, die als Generalsekretäre den Apparat modernisierten und die Union programmatisch öffneten. Sie sorgten also für jene Farbtupfer im Haupthaar der Partei, für die Angela Merkel bei ihrem Amtsantritt vor anderthalb Jahren zu stehen schien – und die sie, sehr zum Verdruss des liberalen Parteiflügels, zuletzt so sehr verleugnet hat.

Schon die SPD musste schwer dafür büßen, dass sie diese Lektion in den Achtzigern nicht lernen wollte. Mit Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und Oskar Lafontaine setzte sie auf Kandidaten, die vor allem die Befindlichkeit der eigenen Partei befriedigten – als würden die Wahlen, um mit Nestroy zu sprechen, im sozialdemokratischen Krähwinkel entschieden.

Der Erfolg kam erst mit Gerhard Schröder, der mit seinem wirtschaftsnahen Pragmatismus aus der kleinen Welt der eigenen Genossen ausbrach. Mindestens bis zur gewonnenen Wahl galt er in seiner Partei als bunter Vogel. Er war dort nicht weniger Außenseiter als Angela Merkel in der CDU – unter umgekehrten Vorzeichen, versteht sich.

Gewiss: Merkel steht noch mehr am Rand als Schröder. Sie hat den Mief der eigenen Partei nicht schon in der Jugendorganisation aufgesogen. Und sie kann die eigene Partei nicht aus einer Position als starke Ministerpräsidentin unter Druck setzen – im Gegenteil: In Mecklenburg, wo die Bundesvorsitzende ihre politische Heimat hat, kämpft die CDU auf verlorenem Posten.

Aber was die Parteichefin aus eigener Kraft nicht vermag, besorgen ihre Widersacher vom rechten Parteiflügel in ihrer biedermeierlichen Einfalt schon selbst. In den vergangenen anderthalb Jahren sind die Falken mit allen Vorstößen an der neuen, postideologischen Realität gescheitert – mit ihrem Konfrontationskurs bei der Steuerreform oder in der Mazedonienfrage nicht anders als mit ihrem Berliner Kandidaten Frank Steffel, den sie gegen Merkels Widerstand durchsetzten. Im Streit um die Zuwanderung ist die nächste Niederlage schon absehbar. Aus dem Mazedoniendebakel haben die Hardliner immerhin gelernt: Den Einsatz in Afghanistan abzulehnen, damit drohen sie gar nicht erst.

Doch in der Öffentlichkeit sind die Niederlagen nicht an Friedrich Merz (Steuerreform), Volker Rühe (Mazedonien) oder Helmut Kohl (Berlin) hängen geblieben – sondern an der Vorsitzenden selbst, die wie im tiefsten 19. Jahrhundert den Sündenbock spielen musste. Mit ihrer übereifrigen Anpassung ans Mehrheitsmilieu hat sich Merkel selbst in diese Position gebracht.

Bis weit über die Grenze der Selbstverleugnung hinaus hat sie dem Drängen der Parteifreunde nachgegeben. Wie weiland Titus Feuerkopf hat sie ständig die Perücken gewechselt, bis sie sich selbst nicht mehr wiederfand. Es ist eben ein Teufelskreis, wie der Dramaturg Hermann Beil anlässlich einer Wiener Nestroy-Aufführung feststellte. Hat er sich einmal für die Selbstverleugnung entschieden, müsse Titus Feuerkopf „von Situation zu Situation unangenehmere Eigenschaften produzieren, um über die Runden zu kommen“.

Nachdem sie diesen Kurs eingeschlagen hatte, musste Merkel auch ihre Erfolge verleugnen. Das Bekenntnis zum Einwanderungsland Deutschland war die größte Revolution im deutschen Konservativismus seit der Öffnung zum Westen unter Adenauer. Aber diese Sieg hat Merkel aus Angst vor der Parteirechten nicht für sich reklamiert, sondern dem saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller überlassen.

Wer seine eigenen Qualitäten selbst als Makel betrachtet, der braucht sich nicht zu wundern, wenn die Öffentlichkeit das irgendwann auch so sieht. Um im Bild zu bleiben: Wenn sich alle Rothaarigen, die Karriere machen, eine Perücke aufsetzen – dann bleiben die Zeitgenossen in dem Glauben, mit roten Haaren könne man nichts werden. Setzten sie aber ihre Perücken ab, weiß Titus Feuerkopf, dann „käm’ die Sach’ in Schwung“.