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helmut höge„Es gibt nur etwa 4.000 Texte“

NormalzeitRehabilitierungversuche, Selbstzensur, kommerzieller Wert: Das Zentrum für Literaturforschung widmete sich der Geschichte der Gulag-Memoiren

Die Gulag-Kanonen, das sind natürlich immer noch Jewgenia Ginsburg, Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow. Am 7. November, dem Tag der Oktoberrevolution, fand im Berliner Zentrum für Literaturforschung eine Diskussion über „Gulag und Gedächtnis“ statt. Das Moskauer Zentrum für Oral History hatte dazu die „Memorial“-Mitarbeiterin Irina Scherbakowa abgesandt.

Wiewohl es kaum ein Land auf der Welt ohne Gulag-Literatur gibt, weil die Arbeitslager wirklich international bemannt waren, konzentrierte die Referentin sich auf die sowjetische Gedächtnisliteratur. Was sich damit rechtfertigen lässt, dass diese Gulag-Memoiren das höchste Niveau haben – Dostojewski und Tschechow legten dafür schon im 19. Jahrhundert die Latte!

Die eigentliche Gulag-Literatur begann erst 1962 mit Alexander Solschenizyns „Iwan Denissowitsch“. Es waren zumeist Vertreter der Intelligenz, die daraufhin anfingen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Dabei ging es ihnen um ihre Rehabilitierung, wobei sie in Form einer Rechtfertigung die KGB-Anschuldigungen zurückwiesen. „Das war auch die ideologische Message von Chruschtschow damals – Lenin contra Stalin“, so Irina Scherbakowa. Die Partei blieb ungeschoren, auch die eigene Rolle – zum Beispiel bei der Kollektivierung der Landwirtschaft – wurde nicht thematisiert.

Nach der Durchsuchung der Wohnung Solschenizyns 1965 änderte sich das: Die Erinnerungsschreiber waren nun ohne Hoffnung auf Veröffentlichung – und ihre Selbstzensur ließ nach. Für die Darstellung des Gulag-Alltags waren die Siebzigerjahre „sehr fruchtbar“.

Ende der Achtzigerjahre überwog dann mit der Perestroika das „antikommunistische Pathos: Die Vergangenheit hatte plötzlich einen kommerziellen Wert. Außerdem ist man nun nicht mehr nur ein Opfer, das mit Glück überlebt hat, sondern von Widerstand ist die Rede. Man spricht jetzt viel von Lageraufständen. Und das wird von den Medien breit aufgegriffen – zwischen 1987 und 1992, dem Jahr des KPDSU-Verbots, das „ein Quasi-Verbot war“.

Danach sank das Medieninteresse an Gulag-Erinnerungen, es wurden jedoch weiterhin welche geschrieben, zumeist von jüngeren Leuten, die nach dem Krieg ins Lager gekommen waren: „Sie griffen oft tabuisierte Themen auf – die Sexualität zum Beispiel.“ Aber man darf sich von dieser Erinnerungsflut keine übertriebenen Vorstellungen machen: „Es gibt nur etwa 4.000 Texte insgesamt – von 17 Millionen Menschen, die irgendeine Gulag-Erfahrung hatten. Das ist ein kleines Gedächtnis, fast ausschließlich von der Intelligenz und von Adeligen“. Man sollte deswegen besser von „verlorenen Erinnerungen“ sprechen, zumal es von den Tätern nur dann Memoiren gibt, „wenn sie selbst Opfer wurden“.

Aufgrund der Homogenität der Schreiber-Gruppe entstand ein „Quasibild des Gulags: Viele waren am selben Ort und schrieben über dieselben Vorkommnisse.“ Seit 1992 gesellt sich dazu aber „das Gedächtnis der Archive: Jetzt können wir vergleichen – und es kommt dabei zu einem Rashomon-Effekt“. Es gibt Millionen von Akten, jede 100 bis 150 Seiten, allein in den Archiven der russischen Förderation. Man möchte sie jetzt von oben gerne wieder „sicherstellen – das System regeneriert sich“. Was zugleich bedeutet, die Gesellschaft „erkaltet“, das heißt, außer einigen speziellen Gruppen versucht man zu „vergessen“: Es gibt kaum Museen, geschweige denn ein „Memorial-Zentrum“. Bei den jungen Leuten kann man bereits von einer „Gedächtniskatastrophe“ sprechen.

Zum Schluss meinte Irina Scherbakowa noch, dass man auch nicht vergessen dürfe – in den Hungerjahren der Nachkriegszeit war die Versorgung in den Lagern mitunter besser als in der Verbannung und in der Freiheit: eine geradezu paradoxe Zwangsarbeitssituation! Kein Wunder, dass dann der Gulag langsam abgeschafft wurde. In einem Dokumentarfilm über ein ehemaliges Lager im Ural hat Eduard Schreiber kürzlich gezeigt, dass etliche alte Häftlinge und Wächter bis heute nicht daraus vertrieben werden konnten.

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