: Einmal Grab und zurück
Nach einer authentischen Geschichte: Tahar Ben Jelloun beschreibt ein marokkanisches Gefängnis, in dem kein Lichtstrahl in die Verliese dringt – „Das Schweigen des Lichts“
Die Hölle lag 450 Kilometer südöstlich von Rabat. 18 Jahre saßen 58 marokkanische Soldaten dort im Atlasgebirge ein. Das Gefangenenlager in Tazmamart war eigens für sie errichtet worden. Ihre Verfehlung: Am 10. Juli 1971 waren sie in den Palast in Skhirat eingedrungen und hatten versucht, König Hassan II. zu ermorden.
Der Putsch misslang. Der Monarch ersann seine perfide Sühne: „Das Grab war eine drei Meter lange und anderthalb Meter breite Zelle. Sie war vor allem niedrig, ein Meter fünfzig bis sechzig. Ich konnte nicht aufrecht stehen“, erinnert sich der Ich-Erzähler in Tahar Ben Jellouns Roman „Das Schweigen des Lichts“. Jelloun, der in Frankreich lebende marokkanische Schriftsteller, hat einem der realen Gefangenen zugehört und dessen Erlebnisse im Buch verarbeitet. Sie waren schlimm genug: Lebendig begraben lebten die Insassen in unterirdischen Zellen. Selbst das Belüftungssystem war so geschickt gebaut, dass kein Lichtstrahl in die Verliese drang.
Der Roman inszeniert die Haft als „sechstausendsechshundertdreiundsechzig Tage“ währenden Kampf gegen die geplante Entmenschlichung. „Wir befanden uns in einer bewegungslosen Gegenwart. Sollte jemand das Unglück widerfahren, zurück oder nach vorne zu blicken, würde er seinen Tod beschleunigen. Die Gegenwart ließ nur Platz für ihren eigenen Ablauf. Sich an den erstarrten Augenblick halten und nicht daran denken. Sicherlich hat mir diese Erkenntnis das Leben gerettet.“
Menschbleiben im unmenschlichen Dahinsiechen: Ein Gefangener zählt Stunden und Minuten und teilt seinen Leidensgenossen dreimal täglich Uhrzeit, Wochentag und Datum mit. Ein anderer rezitiert den Koran aus dem Gedächtnis. Der Rest lernt mit ihm Sure für Sure auswendig. Der Protagonist gibt die Lektüren seiner Jugendjahre zum Besten. Als ihm die Romane von Balzac bis Camus ausgehen, macht er mit Kinofilmen weiter. Es überlebten nur die, die es verstanden, vollständig abzustumpfen und dennoch dabei die Würde nicht zu verlieren.
Tahar Ben Jelloun erzählt vom Willen, selbst dort noch Mensch zu bleiben, wo dies völlig unmöglich erscheint. Seine nüchterne Sprache ist beklemmend. Bis aufs kleinste Detail leuchtet er die Gedanken- und Gefühlswelt der Opfer aus. „Die Wärter hatten den Auftrag, uns so weit wie möglich an der Schwelle des Todes zu halten. Unsere Körper sollten sich langsam zersetzen. Das Leiden sollte sich in der Zeit ausbreiten. Es sollte sich langsam vorarbeiten, kein einziges Organ, keine Hautpartikel auslassen, von den Zehen zu den Haaren aufsteigen, zwischen den Falten, durch die Hautritzen zirkulieren und sich wie eine Nadel vortasten, die die Vene sucht, um ihr Gift abzulassen.“
Als das Lager von Tazmamart auf Druck der internationalen Öffentlichkeit 1991 aufgelöst wurde, waren nur noch 28 der 58 Insassen am Leben – alle waren schwer krank. Block B, von dem Jellouns Roman berichtet, war die Hölle in der Hölle. Von 29 Insassen schafften es dort nur sechs. „Der Autor in der dritten Welt muss nicht nur Schöpfer sein, sondern auch Anwalt, Sozialarbeiter, Richter (. . .) und ein professioneller Ankläger“, definierte sich Jelloun einmal. Für Leser, die diesen Anspruch unterschreiben würden, ist „Das Schweigen des Lichts“ ein empfehlenswertes Buch.
Nicht verschwiegen werden sollte aber auch, dass Jelloun in Marokka selbst in die Kritik geriet. Ausgerechnet Ex-Insassen aus Tazmamart warfen ihm vor, „auf Kosten des Leids zu leben“. Es gibt mittlerweile auch authentische Autobiografien von Überlebenden des Todeslagers.
REINER WANDLER
Tahar Ben Jelloun: „Das Schweigen des Lichts“. Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2001, 252 Seiten, 39,80 DM
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