piwik no script img

Razzien in Istanbul

Um gegen Sympathisanten der Hungerstreiks vorzugehen, stürmt die Polizei ein ganzes Wohnviertel

ISTANBUL taz ■ Mit einem Großaufgebot an schwer bewaffneten Kräften hat die Istanbuler Polizei gestern früh das Armenviertel Kücükarmutlu geräumt, in dem sich seit Monaten Symphatisanten des „Todesfastens“ linker Gefangener versammelt haben. Dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit Anwohnern des Viertels. Die Polizei setzte Tränengas und Räumpanzer ein, die Bewohner antworteten mit Molotow-Cocktails. Nach zwei Stunden nahm die Polizei insgesamt 9 Menschen fest, darunter vier Hungerstreikende. Das gesamte Viertel war zuvor durchkämmt worden, um alle Unterstützer der Hungerstreiks festnehmen zu können. Im Gegensatz zu früheren Razzien zog sich die Polizei nach der Aktion nicht zurück, sondern hält nun das gesamte Viertel besetzt. Im Viertel Alibeyköy drang die Polizei am Mittag in ein Haus ein, in dem sich sieben Menschen dem „Todesfasten“ angeschlossen haben sollen. Auch dort wurden mehrere Personen festgenommen.

Seit Monaten war das sogenannte „Gecekondu“ Kücükarmutlu, ein Slumgebiet oberhalb der teuersten Wohnlagen am Bosporus, zum Fokus des Hungerstreiks von Angehörigen der DHKP-C, einer linksradikalen militanten Splittergruppe, geworden. Angehörige von Hungerstreikenden hatten sich in zwei Häuschen in Kücükarmutlu zu einem Solidaritätshungerstreik zusammengetan. Die Hungerstreiks richten sich gegen die Einweisung in neu errichtete Hochsicherheitsgefängnisse.

Nachdem der Staat dazu übergegangen war, hungerstreikende Gefangene, die bereits gefährlich geschwächt waren, aus gesundheitlichen Gründen aus dem Gefängnis zu entlassen, hatte sich der Schwerpunkt des Hungerstreiks nach Kücükarmutlu verlagert.

Erst vor einer Woche waren bei einem Polizeiangriff auf Kücükarmutlu vier Menschen getötet worden. Während die Polizei behauptet, sie hätten sich selbst verbrannt, berichteten Anwohner, die vier seien erschossen worden.

Zusätzlich starb am Montag ein weiterer Hungerstreikender in einem Gefängniskrankenhaus in Ankara. Damit haben sich seit Beginn der Hungerstreiks vor über einem Jahr bereits 42 Menschen zu Tode gehungert. 30 Menschen wurden getötet, als die Polizei letztes Jahr im Dezember erstmals gewaltsam versucht hatte, den Hungerstreik in den Gefängnissen zu beenden. In Ankara wird nun ein Gesetz vorbereitet, mit dem die Unterstützung von Hungerstreiks unter Strafe gestellt wird: die Höchststrafe soll 20 Jahre betragen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen