: Kabul fällt, Berlin wackelt
Während die Nordallianz in die afghanische Hauptstadt einzieht, erreicht der Streit um einen deutschen Militärbeitrag einen neuen Höhepunkt. Der Kanzler stellt am Freitag die Vertrauensfrage. Grüne Dissidenten sind jetzt Zünglein an der Waage
BERLIN taz ■ In einer überraschenden Kehrtwendung hat Bundeskanzler Gerhard Schröder gestern das Schicksal der Koalition in die Hände der acht grünen Afghanistan-Dissidenten gelegt. Schröder stellte gestern Abend beim Bundestag den Antrag, die Abstimmung über den deutschen Kriegseinsatz in Afghanistan mit der Vertrauensfrage zu verknüpfen. Der Kanzler gab anschließend eine kurze Erklärung ab und betonte, dass er „eine Mehrheit der Koalition erhalten möchte. Ich denke, dass jeder die besondere Bedeutung der Entscheidung zur Kenntnis genommen hat“, sagte der Kanzler. Da die Regierung nur 16 Stimmen mehr hat als die Opposition, könnten die acht Kriegsgegner der grünen Fraktion ein Scheitern in der Vertrauensfrage herbeiführen. Auf die Abgeordneten erhöhte sich der Druck auch durch die Ankündigungen der Oppositionsfraktionen, bei der auf Freitag verschobenen Abstimmung mit Nein zu stimmen. „Es ist nicht unsere Aufgabe, eine wackelnde Regierung zusammenzuhalten“, sagte FDP-Fraktionschef Gerhardt vor seinen Abgeordneten. SPD-Fraktionschef Struck kündigte an, seine Fraktion werde „geschlossen“ hinter dem Kanzler stehen. Die CDU-Vorsitzende Merkel erklärte, sie glaube nicht an ein Scheitern der Regierungskoalition.
Unter den acht grünen Dissidenten löste die Ankündigung Schröders zum Teil Entsetzen aus. Allerdings erklärte noch keiner von ihnen öffentlich einen Sinneswandel. Der Kanzler wurde bei seiner Diskussion mit den Fraktionen der Grünen und der FDP mit Beifall bedacht. Schröder machte in seinen Ansprachen aber auch klar, dass Rot-Grün für ihn „eine Option“ über diese Legislaturperiode hinaus sei. Scheitert Schröder an der Vertrauensfrage, könnte er Neuwahlen veranlassen, den Koalitionspartner wechseln oder das Ergebnis ignorieren. Das freilich wäre ganz gegen sein Naturell.
PATRICK SCHWARZ
KABUL dpa/ap ■ Die oppositionelle Nordallianz hat gestern Morgen die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen, nachdem sich die Taliban zuvor kampflos zurückgezogen hatten. Hunderte Soldaten der Allianz zogen in die Stadt ein, wo es Berichten zufolge zu einzelnen Plünderungen kam. Sprecher der Nordallianz versicherten, man wolle nicht die Macht an sich reißen. Die USA hatten vergeblich gefordert, vor einer Eroberung Kabuls eine politische Lösung abzuwarten. Der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, sagte jedoch, US-Präsident George W. Bush sei „sehr erfreut über die Fortschritte und die jüngsten Entwicklungen“.
Der britische Premierminister Tony Blair forderte eine schnellstmögliche UN-Präsenz in Afghanistan, um eine stabile Regierung aufzubauen. Der afghanische Exkönig Sahir Schah, der hierbei eine integrierende Rolle spielen soll, kritisierte die Übernahme Kabuls: „Wir wollen, dass die Stadt zunächst entmilitarisiert wird“, sagte sein Sprecher in Rom. Auch das pakistanische Außenministerium forderte die Entmilitarisierung Kabuls. Die Nordallianz meldete auch die Einnahme von Dschalalabad östlich von Kabul. In Kabul verkündete sie eine Generalamnestie und rief ihre Soldaten auf, Recht und Gesetz nicht in die eigenen Hände zu nehmen. Die Bevölkerung der Stadt habe auf den Abzug der Taliban mit überschwänglicher Freude reagiert, berichtete ein BBC-Reporter.
Nach Informationen des US-Senders CNN haben Kämpfer der Nordallianz in Mazar-i Sharif nach ihrem Einmarsch 600 Menschen ermordet. Der Reporter von CNN berief sich dabei auf Angaben von Hilfsorganisationen in der nordafghanischen Stadt. Unter den Opfern seien auch Pakistanis und Tschetschenen, die auf der Seite der Taliban gekämpft hätten. Zuerst war von einem Massaker mit 100 Toten die Rede gewesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen