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Schlingern zwischen Extremen

■ Brutalpubertät: Theater Jugend spielt „Fräulein Niemand“

Angesichts des Saals, der satt gefüllt ist mit Jugendlichen, die ihren Weg offensichtlich freiwillig zu einer Aufführung der Theater Jugend in der Zinnschmelze gefunden haben, dürften sich so manche Pädagogen und Theatermacher neidvoll die Augen reiben. Das Geheimnis des dauernden Erfolgs liegt sicherlich in der ausdauernden Arbeit von Gert Kieras, dem Leiter der Gruppe. Und an seinem Rezept: nämlich vorrangig Jugendliche für Kinder und Jugendliche spielen zu lassen.

Bereits über zwei Jahrzehnte hat er ein Heer von Adepten auf die Bühne gezogen und dabei immer auch ein bisschen erzogen. In diesem Winter sprengt die Theater Jugend gleich mit drei Stücken schon fast ihren Rahmen. Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt (Markthalle) und Die Schneekönigin (Zinnschmelze) kommen demnächst. Das Fräulein Niemand hatte jüngst Premiere.

Der gleichnamige Roman des Polen Tomek Tryzna (1996 verfilmt von Andrzej Wajda) diente Kieras alsVorlage für seine Dramatisierung. Ihm gelang bei Das Fräulein Niemand eine sehenswerte Umsetzung, der man ein paar Längen verzeihen mag, was besonders der Leistung der drei Hauptdarstellerinnen im elfköpfigen Ensemble zu verdanken ist. Melanie Peters schultert das Pubertätsdrama in der Titelrolle der Marysia, die sich vom naiven Mädchen zur tödlich ernüchterten Jugendlichen entwickelt. Sie erlebt eine Achterbahnfahrt zwischen Hormonen, Lebenskrisen und -lügen.

Eben noch von ihrer ersten Menstruation überrascht, findet sie sich wenig später als Außenseiterin in einer neuen Schule wieder. Und wird dann schneller als ihr lieb ist, von zwei Freundinnen „unter die Leute gebracht“, wie sie selbst sagt. Kasia steht für intellektuelle Unabhängigkeit, Kreativität und Lebenswut. Rebekka Szúcs verleiht ihr impulsive und authentisch vehemente Züge. Ewa (Linda Holly) dagegen steht für Luxus und Macht aus Reichtum. Während Kasia auf der Suche nach Wahrheiten am Rand des Wahnsinns zwischen Zärtlichkeit und Brutalität agiert, treibt Ewa den Irrsinn durch Befehlsspielchen und sexuelle Gehorsamsübungen auf die Spitze.

Marysia lernt von beiden, schlingert zwischen den scheinbar verfeindeten Freundinnen und erkennt zum Schluss, dass sie sich nur an ihr ausgetobt haben. Für beide ist sie nichts als ein „Fräulein Niemand“. Der Verwirrten öffnet sich keine Lebensperspektive. Sie schließt ihren Bericht verstört. Und reizt genau damit zur Diskussion.

Oliver Törner

16., 17. 11., je 19 Uhr, Zinnschmelze (TheaterJugend). Karten unter 63 21 322

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