: Süchtig nach Prozenten
Kontrolliertes Trinken – geht das? Ein Therapiekonzept zur freiwilligen Selbstbeschränkung spaltet die Expertenszene ■ Von Sandra Wilsdorf
Ausrede, Ausflucht oder Alternative? Für Alkoholiker galt bislang die glasklare Ansage, wer trocken sein will, muss auf Alkohol ganz und gar und für immer verzichten. Doch was unumstößlich schien, gerät ins Wanken. Auf der Suche nach neuen Wegen diskutieren Experten immer häufiger über „kontrolliertes Trinken“ und darü-ber, ob die freiwillige Selbstbeschränkung nicht eine Möglichkeit ist, mit dem Alkohol zu leben.
Der Nürnberger Psychologie-Professor Joachim Körkel hat das Therapiekonzept entwickelt, und bundesweit bietet es bisher nur die Psychosoziale Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke der Caritas in Nürnberg an. In Hamburg will die Drogenhilfeeinrichtung Viva Wandsbek jedoch im kommenden Jahr ein entsprechendes Angebot machen. Und bei den Suchttherapietagen, die alljährlich vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) am UKE ausgerichtet werden, soll sich 2002 alles um die Frage „Konsum kontrollierbar – kontrollierter Konsum. Suchttherapie jenseits des Abstinenzparadigmas?“ drehen.
Bei dem Konzept des kontrollierten Trinkens entwickeln Menschen mit Alkoholproblemen gemeinsam mit qualifizierten Betreuern selbstgesteckte Ziele. Sie legen fest, an welchen Tagen sie trinken dürfen und wieviel; sie entscheiden vorher, in welcher Umgebung und Verfassung sie auf keinen Fall trinken. Es geht darum, die Kontrolle über den Alkoholkonsum zu behalten oder wieder zu erlangen.
In der Szene der professionellen Entwöhner, Helfer, Therapeuten und der Abhängigen wird das Konzept sehr kontrovers diskutiert. Die Selbsthilfegruppen lehnen es vehement ab, weil sie fürchten, dass Menschen, die längst trocken sind, wieder zu trinken anfangen.
Auch Hans-Jürgen Streng, Pressesprecher des sozialtherapeutischen Zentrums für Suchtkranke in Hummelsbüttel, sagt: „Ich habe in 22 Jahren Suchtarbeit noch niemanden gesehen, der kontrolliert trinken kann.“ Wohl gebe es viele Menschen, die das von sich behaupteten und eine Weile auch den Anschein erwecken könnten, als hätten sie den Konsum im Griff. Aber irgendwann belehre sie die Sprirale des Immer-mehr-trinken-müssens eines Besseren. Für Streng ist kontrolliertes Trinken ein immer mal wieder auftauchendes Thema: „Für jeden Süchtigen müsste das ja das höchste Ziel sein, weil er so wieder werden könnte wie alle anderen.“ Für Strenge ist das jedoch Theorie und für das sozialtherapeutische Zentrum mit Beratungsstelle und Tagesklinik kein Thema. „Wir setzen weiter auf Abstinenz.“
Professor Michael Krausz, Leiter des ZIS, sieht in der Methode hingegen eine Chance: „Das ist ein therapeutischer Ansatz, über den es sich lohnt nachzudenken.“ Denn entgegen der „Heilslehre und der Auffassung der Selbsthilfegruppen gibt es Menschen, die ihren Konsum kontrollieren können, so wie es auch kontrollierten Zigarettenkonsum gibt“. Das Angebot sei keineswegs ein Ersatz für Abstinenz, sondern für manche Menschen eine Alternative oder ein Weg dahin. „Man würde nie Leute ansprechen, die bereits abstinent sind.“
Das betont auch Ralf Backer von Viva Wandsbek, wo das Konzept demnächst ausprobiert werden soll: „Das ist nur eine Möglichkeit im Umgang mit Alkoholismus, es geht auf keinen Fall darum, abstinent Lebende wieder zum Alkohol zu bringen.“
Das Angebot sei eher etwas für Menschen, deren Abhängigkeit noch nicht so weit fortgeschritten ist, oder die sich ein Leben ganz ohne Alkohol nicht vorstellen können und es auch nie ausprobieren würden. Für viele Menschen sei die Abstinenz eine viel zu hohe Schwelle, sie werden durch bisher bestehende Angebote nicht erreicht. Die Landesstelle für Suchtgefahren Schleswig-Holstein schätzt, dass in Deutschland 2,4 Millionen Menschen vom Alkohol abhängig sind, weitere vier Millionen missbrauchen ihn. Nur etwa drei Prozent der Suchtkranken sind in Behandlung.
Die bereits bestehenden Erfahrungen aus Nürnberg haben gezeigt, dass mancher, der beim kontrollierten Trinken erkennen muss-te, dass er seinen Konsum eben nicht im Griff hat, dann doch zu einer Therapie bereit war, an deren Ende der Totalverzicht stand. Und vielen Menschen, die zwar einen problematischen Konsum spüren, sich aber nie zu einer Abhängigkeit bekennen würden, wird auf diese Weise klar, dass sie süchtig nach den Prozenten sind.
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