: German Studies
Notizen eines Literatur lesenden Amerikareisenden – zweite Station: Spokane, Washington. Vom weiten Himmel über einer fragilen Welt
von TOBIAS HÜLSWITT
Nachdem wir Los Angeles und San Francisco besucht haben, werde ich für einen Tag von Maike und David getrennt. Während die beiden in Seattle bleiben, fliege ich in einer Propellermaschine weiter nach Spokane, Washington. Unter mir zieht eine bergige Landschaft vorbei. Als die Maschine tiefer geht, kann ich Kiefernwälder ausmachen, Farmen, Pickups, ein Pony, das über eine Koppel rast, und als wir landen, weiß ich, ich bin jetzt im richtigen Amerika.
Am Flughafen holt mich Rachel ab, und ich erfahre, dass ich in Pullman lesen werde. Pullman liegt anderthalb Autostunden südlich von Spokane, und in dieser Zeit kommen wir durch genau eine kleine Stadt. Mit ihrer weiten Hauptstraße, den ausladenden Bürgersteigen und den ein- bis zweigeschossigen, zum Teil mit breiten Fassaden in den hellen Tag hineinragenden Häusern wirkt sie wie eine in moderne Materialien übertragene Westernstadt. Und da die Geschwindigkeitsbegrenzung bei 25 Meilen die Stunde liegt, schieben sich die Autos langsam wie Kutschen durch den Ort.
Außerhalb dieses Städtchens führt der Highway durch sanfte, von abgemähten, gelben Weizenfeldern bedeckte Hügel, Bäume sind keine zu sehen. Die Gegend, erklärt mir Rachel, sei hauptsächlich von Deutschen und Skandinaviern besiedelt worden. In den Stammbäumen von 73 Prozent der weißen Amerikaner, fügt sie hinzu, fänden sich Deutsche. Meist sind es die Enkel, Urenkel und Ururenkel der deutschen Siedler, die an der Universität von Pullman Deutsch lernten. Und wo sind die Indianer?, möchte ich wissen. Die Indianer, sagt sie, lebten ganz in der Nähe in einem Reservat, sie seien leider sehr arm und ihre schulische Ausbildung sei zu mangelhaft, um ihnen gesellschaftliche Perspektiven zu eröffnen.
Ab und zu gleiten wir an einer Farm vorbei, etwas macht mich nervös, und allmählich merke ich, was es ist. Während ein Bauernhof in Deutschland zu den solidesten Dingen zählt, während eine Straße dort etwas Klares, die Natur fest im Griff Habendes ist, scheint es hier ganz anders zu sein. Die Ränder des Highways sind undeutlich, unentschlossen geht der Asphalt ins Steppengras über, und man wird das Gefühl nicht los, dass dieses Gras nur auf die Gelegenheit wartet, den Highway zu verschlucken. Die Farmen sind aus Holz gebaut und wirken so flüchtig, als könne jede Sekunde ein Tornado oder eine konzerngelenkte Planierraupe kommen und sie auslöschen. Im Hinterkopf taucht auch die Vorstellung auf, ein Ussama mit seinen Zellen könnte diese fragile Welt verletzen.
In Pullman angekommen, darf ich einen Blick in das Footballstadion der Washington State University Pullman werfen, in dem 20.000 Menschen das Spiel der Collegemannschaft verfolgen. Bei jedem Touchdown der Heimmannschaft wird ein Kanonenschuss abgefeuert. Vor dieser Geräuschkulisse lese ich vor 20 bis 30 Studenten, die ein ausgezeichnetes Deutsch sprechen, und zum ersten Mal empfinde ich etwas, das sich im Lauf der Reise noch einige Male einstellen wird. Eine Art Freude darüber, dass sich so fern von zu Hause Menschen für mein Land und meine Sprache interessieren.
Während der Lesung läuft ein betrunkener Student von außen gegen das Fenster des Seminarraums und ruft: „What are you guys doing in there – we got a football game running!“, und ich muss an diesen witzigen Halloweenkürbis denken, den ich zuvor vor einem der Studentenhäuser gesehen hatte. Er hatte eine Flasche Bier neben sich stehen und kotzte. Nach der Lesung laufe ich mit Freunden von Rachel durch kniehohes Laub zu ihrem blauen Holzhaus. Vier Deutsche und zwei Amerikaner sind dort am Esstisch versammelt, zwei der Deutschen sind GermanistInnen, die dritte die einzige Buchbinderin von Washington und Idaho zusammen.
Rachel und der zweite Amerikaner unterrichten ebenfalls German Studies. Es ist das erste richtige Intellektuellentreffen, dem ich in Amerika beiwohne, mit deutschen Exilintellektuellen, und tatsächlich bekommt das Gespräch etwas Intensiveres, als ich es von Abendessengesprächen aus Deutschland kenne. Das Miteinanderreden an sich, das Sich-Austauschen ist bereits das Wertvolle.
John erzählt vom Desinteresse seiner Studenten an älterer deutscher Dichtung und ihrer Schwierigkeit mit der geschriebenen Sprache, während Filme sehr gefragt seien; wir kommen auf das Ende der Gutenbergzeit zu sprechen und die Wiederbelebung des Bildes als Kommunikationsform, die praktische Wiederaufnahme der Bildersprache des analphabetischen Mittelalters. Gerd spricht von der seltsamen Verbindung von Bildern und der Affirmation gesellschaftlicher Zustände und, auf der anderen Seite, der Verbindung von Sprache und Kritik. Und wir kommen auf den Krieg der Bilder, der am 11. September neben dem militärischen begonnen hat, und die mediale Gegenüberstellung der beiden identisch simplen Figuren Bush und Bin Laden zu sprechen.
Wir brechen eine leidenschaftlich deutsche Diskussion vom Zaun, während der beide Amerikaner immer zurückhaltender werden, aber am Ende scheint es so, als hätten wir Deutsche es wieder einmal vermocht, die Welt an einem einzigen Abend zurecht zu rücken.
Beim Schlafengehen lasse ich die Jalousie oben und wache gegen sechs Uhr in der Frühe auf, sehe die Sonne aufgehen, streife einen Pullover über, gehe hinaus in die kalte Morgenluft und fotografiere die Häuser, die Edward Hopper hier persönlich auf die Hügel gemalt zu haben scheint. Der blaue Himmel über mir ist endlos weit.
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