: UNO muss Weltpolizei werden
DER NEUE PAZIFISMUS (II): Neben der Forderung nach absoluter Gewaltfreiheit gab es lange den „organisatorischen Pazifismus“. Er will den Weltstaat – und ist wieder modern
Kabul ist befreit. Die Frauen sind aus ihrer Burka hervorgekrochen, und die Menschen tanzen auf der Straße. Der Pazifismus ist in seinem Nerv getroffen, denn dieses Ergebnis wurde nicht mit Pflugscharen, sondern mit Schwertern erreicht. Hat er jetzt keine Funktion mehr?
Doch. Es ist ja nicht das erste Mal, dass militärische Gewalt Gutes bewirkt hat (zum Beispiel die Befreiung von Adolf Hitler). Das hat den Pazifismus noch nie widerlegt. Aber er muss in eine andere Form kommen. Gewaltlosigkeit und Gewalteinsatz unterscheiden sich nicht wie Gut und Böse. Unter welchen Umständen ist Gewalt gut, unter welchen nicht? Auf diese Frage muss der Pazifismus endlich eine Antwort geben.
Zur Verhinderung von Genoziden, zur Wahrung der Menschenrechte, zur Bekämpfung von Terror – das sind Antworten, die nicht befriedigen. So haben sich „gerechte Kriege“ schon immer gerechtfertigt, und das Ergebnis war Eskalation und Chaos. Nach dem Dreißigjährigen Krieg haben sich die christlichen Völker versprochen, dass sie nie wieder mit moralischen Argumenten gegeneinander Krieg führen wollen. Diese Begründungen können jetzt nicht einfach wieder hervorgeholt werden. Genauer: Sie können nur unter einer Bedingung hervorgeholt werden – wenn es ein Weltgewaltmonopol, eine unangefochtene Weltpolizei gibt.
Die Forderung nach einer Weltpolizei wird jedoch höchstens durch die Blume geäußert. So war es auch gestern in Erhard Epplers Beitrag an dieser Stelle. Er meinte, der Pazifismus müsse sich wandeln: Militär und Pazifismus seien aufeinander angewiesen, um der neuen „privatisierten Gewalt“ des Terrors zu begegnen. Der Pazifismus soll also sein Feindbild ändern. Nicht mehr die staatliche Militärmacht, sondern der gewalttätige Wildwuchs in der Welt soll ihm zuwider sein. Das Militär soll er als ordnende, friedensstiftende Macht anerkennen – als Partner.
Das ist eine gute Idee. Aber bisher kann man von Militär nur im Plural sprechen. Es gibt immer noch Armeen, und ihr Auftrag ist immer noch Zerstörung. Das sieht Eppler natürlich auch, und er setzt sich deshalb für die Verpolizeilichung des Militärs ein. Für den Weg dorthin setzt er auch den richtigen Weiser: die internationale Gewaltmonopolisierung. Denn das ist der Charakter des Polizeilichen im Unterschied zum Militärischen: Es ist die Gewalt, die von einem Monopol ausgeht. Wenn es ein Weltgewaltmonopol gäbe, würde sich automatisch alle Politik in Innenpolitik verwandeln und alles Militär in Polizei.
So kommt Eppler auf die Weltpolizei zu sprechen, aber er fordert sie nicht. Auch Mathias Greffrath hat sich in dieser Richtung geäußert (taz vom 16. 11.). Aber auch er trägt den Gedanken beinahe verklausuliert vor. Warum prophezeit Eppler nur für den Fall von atomarem Terror, dass der Ruf ertönen werde: Staaten aller Kontinente, vereinigt euch? Warum ruft er das nicht selbst, und zwar jetzt und heute? Warum spricht Greffrath nur so in den Bart hinein von Weltpolizei und Weltinnenpolitik, ohne sich wirklich dafür einzusetzen?
Das ist doch merkwürdig. Denn wer überzeugt ist, dass die Menschheit jetzt dafür reif ist, ein globales Gewaltmonopol –eine Weltpolizei – aufzubauen, der müsste dieses Projekt doch zum Thema Nummer eins machen wollen. Er müsste doch ganz versessen darauf sein, seine Voraussetzungen und Implikationen zu erforschen und zu diskutieren.
Doch die psychologischen Hemmungen sind enorm und weitgehend unbewusst. Die Abwehr gegen die Weltstaatsidee hat geradezu phobischen Charakter. „1984“ und „Schöne Neue Welt“ melden sich spontan. Der Weltstaat muss notwendig totalitär sein. Der Kosmopolitismus, das Jahrtausende alte Streben nach dieser Einrichtung, ist völlig aus der Mode. Soweit die Kosmopolis nämlich nicht gerade als Weltdiktatur gedacht wird, wird sie so aufgefasst, als sei sie geradezu definitionsgemäß eine Utopie. Diesem starken Zeitgeist mag sich niemand widersetzen.
Keine Partei würde es wagen, den Aufbau des Weltstaats in ihr Programm aufzunehmen. Und es müssten ja auch Positionen in sehr heiklen Fragen entwickelt werden: Wie ist das Verhältnis zwischen der Weltpolizei – und der Europa-Idee? Sollten wir statt einem globalen ein europäisches Gewaltmonopol anstreben? Und – noch viel brisanter: Wie stehen die USA dazu?
Man weiß ja, welches starke Ressentiment die Sole Super Power gegen die UNO hat – die ja der legitime Ort für ein Weltgewaltmonopol wäre. Die USA wollen bekanntlich keine höhere Macht über sich wissen. Insofern wirkt im Stillen die nicht ganz unberechtigte Befürchtung, dass die explizit vorgetragene Forderung nach der Weltpolizei das sensible Thema Westbindung ankratzen könnte.
Hier liegt die wahre Grenze der Weltföderationsidee. Wenn er die Weltpolizei ins Auge fassen will, muss sich der Pazifismus mit dieser Frage beschäftigen. Dazu möchte ich eine Anregung geben: Ob man den Konflikt zwischen Westbindung und Weltstaatsorientierung vielleicht so lösen könnte, dass man beide Tendenzen bündelt, dass man also die USA bittet, das Weltgewaltmonopol in die Hand zu nehmen? Man würde dann den Weg gehen, den Hobbes seinen Zeitgenossen anriet, als die nationale Gewaltmonopolisierung anstand: Unterwerft euch dem Stärksten und fragt nicht nach seiner moralischen Legitimation!
Ob UNO-Herrschaft oder globale Pax Americana – der Pazifismus muss sich mit dem Thema Weltföderalismus befassen. Das wäre für ihn keine Neuigkeit. Insofern muss er sich auch nicht wandeln. Denn er hat die auf die Kosmopolis ausgerichtete Strömung – als starke und oft sogar herrschende Strömung – immer gehabt. Es gab neben den auf absolute Gewaltlosigkeit ausgerichteten Strömungen, die auch mit Polizeigewalt nicht sympathisieren mögen, immer auch solche, die auf eine polizeilich wohl versehene Kosmopolis aus waren. Zeitweise nannte sich diese Richtung „organisatorischer Pazifismus“. Das Stichwort, unter dem das Thema vor dem Ersten Weltkrieg diskutiert wurde, hieß „Weltexekutive“. Diese Worte könnten für die anstehende Diskussion wieder nützlich sein.
Man darf auch nicht aus dem Auge verlieren, dass die Vorform zu einer Weltpolizei, die UNO, bereits ein Kind des Pazifismus ist. Diese Organisation hat ihre Wurzeln in den Anstrengungen Bertha von Suttners und tausend anderer Friedensbewegter. Insofern müssen die Pazifisten nur in ihren alten Büchern lesen.
Die auf Weltorganisation gerichtete Strömung des Pazifismus ist deshalb so in den Hintergrund geraten, weil die UNO bald nach ihrer Gründung in die Blöcke Nato und Warschauer Pakt auseinanderfiel. Im Zustand des Gleichgewichts des Schreckens konnte die Friedensbewegung nicht an den Aufbau einer Weltzentrale denken, sondern musste sich mit den Gefahren der atomaren Sprungbereitschaft beschäftigen. Jetzt sind neue Zeiten, jetzt sind neue Chancen, jetzt kann sie an den alten Faden wieder anknüpfen.
SIBYLLE TÖNNIES
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