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Der alte Mensch als Trivialmaschine

Aufzeichnungen aus Pflegehäusern (4): Der Pflegebedarf muss errechnet werden. Die Einheit sind exakt festgelegte Bedarfsminuten. Es muss nur eine Mindestmenge an examiniertem Personal zur Verfügung stehen. Gerechnet wird mit Kosten- und Nutzenfaktoren. Was darüber hinausgeht, ist Luxus

■ Alter bedeutet in unserer modernen Gesellschaft nicht ein Jetzt-erst, das Fülle und Ertrag meint, sondern ein Nicht-mehr, ein Manko, ein Makel, ein Schicksal, eine Endstation. Unsere Serie beschäftigt sich damit, wie daraus die massenhafte Produktion von unnötigem Leiden wird

von PETER FUCHSund JÖRG MUSSMANN

Leitbilder und Selbstbeschreibungskonzepte sind Verklärungsleistungen raffinierter Art. Sie sollen nach außen überzeugen, obgleich sie nach innen nur die überzeugen, die sie verfertigt oder angeordnet haben. Das hat damit zu tun, dass die Informationsströme in Organisationen zu deren Spitze hin extrem ausdünnen. Oben kann man glauben, dass das Beste geschieht, an der Basis herrscht Betriebskenntnis. Das schließt Emphase aus. Anders als in Kontexten der Sozialpädagogik/Sozialarbeit oder in der Arbeit mit Behinderten bildet sich kein juste milieu, keine Domäne sich wechselseitig bestätigender Selbstgerechtigkeiten. Die Bilder, die das Pflegepersonal sieht (und inszeniert), geben keinen Anlass dazu. Es sind nicht Bilder himmlischen Friedens, sondern Bilder einer forcierten Rastlosigkeit, die dazu zwingt, Leute zu füttern, auch wenn sie keinen Hunger haben, und ihnen notfalls den Löffel zwischen Zähne und Lippen zu pressen, damit geschieht, was geschehen muss. Es ist der Zeitdruck, der dazu nötigt, der verwirrten und aufgeregten alten Dame heimlich Beruhigungsmittel in den Tee zu tun, und es ist derselbe Zeitdruck, der dazu führt, dass man diesen alten Menschen nicht in Zeit und Würde zwischen den Pflegeoperationen (und bei diesen selbst) begegnen kann. Die Unterbesetzung mit Personal ist chronisch, die Klage darüber auch.

Was sich wohl sagen lässt, ist, dass das Pflegepersonal in vielen Einrichtungen der Alterspflege einen ganz eigenen Kommunikationszusammenhang mit entsprechend eigenen Sprachgepflogenheiten ausprägt. Altenpfleger/innen und Pflegehelfer/innen, ungelernte Hilfskräfte und Zivildienstleistende mögen sich darum bemühen, zu tun, was von ihnen erwartet wird, aber diese Erwartungen werden selten von Leitbildern und Selbstbeschreibungskonzepten bezogen, sondern in der Pflegetruppe intern erwirtschaftet: als ein beinahe geschlossenes System. Der Zivi tut, was die Altenpflegerin sagt, und alle tun, was schon immer getan wurde, und alle müssen sich einordnen in einen Horizont möglicher Ereignisse, der durch ein „So haben wir es immer gemacht!“, „So macht man das!“, „So geht das!“ und „So geht das nicht!“ gekennzeichnet ist. Mitunter wird dieser Horizont aufgebrochen, durch eine Pflegeschülerin vielleicht, die an den Idealen hängt, die man sie gelehrt hat, die aber dann erfährt, dass sie praktisch unerfahren und zu allem Übel noch theorielastig agiert. Da ist vielleicht auch die Alltagsnatürlichkeit des Zivildienstleistenden, dessen Scham- und Taktgefühl noch nicht durch Ausblendungsroutinen im täglichen Kontakt mit Grenzsituationen betäubt werden konnte, und da ist vielleicht auch der neu eingestellte Pflegedienstleiter, der kopfschüttelnd an die Verbesserungsarbeit geht, aber sehr schnell lernen muss, dass seine Ideen mit den vorgegebenen ökonomischen Mustern kompatibel sein müssen. Sonst stört er wie die Pflegeschülerin, der Zivildienstleistende und muss sich (bei Strafe der Exkommunikation) mit Strukturen der Widerspenstigkeit arrangieren, die sich im Laufe vieler Jahre gebildet haben – in der Pflegetruppe selbst, aber eben auch und gerade an der Spitze, bei Geschäftsführern, Pflegedienstleiterinnen, Abteilungsleitern.

Diese Widerspenstigkeit ist nicht bösartig, sie ist systemisch. Der Pflegebedarf muss errechnet werden. Die Einheit sind exakt errechnete Bedarfsminuten. Es muss eine Mindestmenge an examiniertem Personal zur Verfügung stehen – der gefürchteten Heimaufsicht zuliebe. Gerechnet wird mit Kosten- und Nutzenfaktoren. Streng an der Grenze der gesetzlichen Richtlinien entlang werden die Arbeitskräfte in geschickt organisierten Arbeitsbereichen verteilt, die sich auf den Leistungskatalog beziehen, der im Wesentlichen den Körper vor Augen hat, Körperpflege und Ernährung stehen im Zentrum. Nähe, Wärme, gepflegte Kommunikation werden (ohne Beteiligung von Pflegegerätschaften) weitgehend ausgeschlossen. Das liegt außerhalb des Katalogs, und eben deshalb kann darauf bezogenes Personal (oder dafür zu veranschlagende Zeit) nicht zur Verfügung stehen. Auf einschlägige Fragen hat man es uns gesagt: „Wir müssen uns nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten richten! Früher lagen die Pflegebedürftigen zu zehnt auf dem Saal ...“

Es ist dann auch nicht selten, dass die Leitungskräfte aus branchenfernen Gebieten wie Wirtschafts- oder Handwerksbetrieben stammen. Nur so ist erklärbar, dass der gehbehinderte Herr, der täglich Hilfe beim Toilettengang benötigt, sich jeden Tag aufs Neue überlegen muss, wie er mal der Schwester, mal dem Zivi, mal der neuen Schülerin seine Gewohnheiten bei den erforderlichen Handgriffen nahe bringen könnte. Er hat es mit immer wieder neuen Leuten zu tun und mit immer neuen Leuten mit immer weniger Zeit. Nur so kann man erklären, dass eine Hausgemeinschaft von über hundert Bewohnern sich nachts in der Obhut zweier junger Pflegerinnen weiß, von denen nur eine in der Ausbildung gelernt hat, was getan werden muss, wenn sie mit ihrer Kollegin an einem Ende des Hauses eine verwirrte und aufgebrachte Bewohnerin zur Räson bringen muss (sie ist wütend, weil sie vergessen hat, dass die Zimmertür immer nachts um eine bestimmte Zeit im Zuge eines Kontrollganges aufgerissen wird), während am anderen Ende und fast zehn Minuten Fußmarsch entfernt eine andere Bewohnerin aus dem Bett gefallen ist und nun zwischen Nachtgeschirr und Waschbecken liegt, ein Schlaganfall vielleicht.

Der alte Mensch (der Kunde, wie man so im Kontext von Qualitätsmanagement zu sagen pflegt) wird zu dem, was Heinz von Foerster eine Trivialmaschine genannt hat. Das sind Maschinen, die auf einen Input hin einen berechenbaren Output liefern und deren interne Informationsverarbeitung dabei keine wesentliche Rolle spielt: die Blasenentleerungszeit ist von Bedeutung, die zur Entleerung des Darmes auch. Es gibt Zeitstandards, die die Pflege der Vitalfunktionen betreffen. Was darüber hinaus geschieht, wird nicht selten offen als „gewisser Luxus“ bezeichnet. Was als Luxus im Freizeitangebot gewürdigt wird, basiert jedoch wieder auf der Trivialitätsannahme: Es geht aus von dem, was alle alten Leute offenbar typisch mögen, eben Volkslieder, Gedächtnisspiele, Besuche des Kinderchors aus der Kirchengemeinde – all das, versteht sich, ist nur in sauber geschnittenen Zeitfenstern möglich. Wer nicht mehr die Ankündigungen der BeschäftigungstherapeutInnen lesen kann, wer zu schwerhörig ist, um die schönen Volkslieder zu hören, oder wer mit der Diagnose der Demenz zu den sozial Inkompatiblen gehört, „dem bringt’s auch nix“.

Die freie Zeit ist furchtbar frei, die Freizeit organisiert und knapp bemessen. In der freien Zeit kann man Korridorwände anstarren, Radio hören, aus dem Fenster schauen und lernen, was das Mittelalter acedia nannte, die Ödnis des Geistes. Die Strukturen des Pflegebetriebs „korsettieren“ die Zeit so, dass die zeitliche Autonomie der „Kunden“, die Eigenzeit der Alten, Dementen, Verwirrten verdampft. Es geht gerade nicht um die Berücksichtigung individueller Zeitbedürfnisse, es geht um den Betrieb. So kommt es, dass die Antwort der alten Dame im Rollstuhl auf die Routinefrage in der Frühschicht „Na, von wo kommen Sie denn eigentlich her?“, erst in die Spätschicht fällt: „Oberschlesien.“ Und von niemandem mehr verstanden werden kann.

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