bettina gaus über Fernsehen
: Was, du siehst die Doku auf Arte nicht?

Wenn der TV-Krimi endlich spannend wird und ausgerechnet dann eine Freundin anruft – da hilft nur die Lüge

Es ist einfach nicht wahr, dass früher alles besser gewesen ist. Manche ausgeklügelten Gemeinheiten, die meine Jugend begleitet haben, sind heute so einfach nicht mehr möglich. Zum Beispiel regelmäßig genau dann anzurufen, wenn Kommissar Keller den Mörder endlich entlarvt. Eine Freundin meiner Großmutter tat das mit Vorliebe. Wirklich biestig. Wie soll man da reagieren? Es gibt akzeptable Sätze. „Du, die ‚Tagesschau‘ fängt gerade an“, ist so einer. Er weist den Sprecher als seriösen Menschen aus und wird dem Anrufer – mit einigem Glück – vielleicht sogar eine Entschuldigung entlocken. Ganz anders aber verhält es sich mit dem Satz: „Du, ich ruf dich zurück, wenn der Krimi vorbei ist.“

Wer so etwas sagt, entlarvt sich als jemand, der sich nicht zu schade ist für billige Massenunterhaltung, ja, schlimmer noch: dem diese Form der Unterhaltung sogar wichtiger ist als menschliche Wärme und Nähe. Wer will schon so dastehen? Meine Großmutter wollte es jedenfalls nicht. Also plauderte sie brav mit der Freundin, um danach zähneknirschend das Zimmer zu betreten: „Wer war’s denn nun?“ Die umständlichen Erklärungen der Glücklichen, die das Geschehen ungestört hatten verfolgen dürfen, waren nicht vergleichbar mit dem Genuss des eigenen Augenscheins.

Die Einführung des Privatfernsehens hat solchen Telefonsadisten das Handwerk gelegt. Natürlich wusste die anrufende Freundin ganz genau, dass meine Großmutter den „Kommissar“ sehen wollte, das aber nicht zugeben mochte. Heute hätte sie’s schwer angesichts der Vielzahl der Kanäle. Zumal man bei einer einigermaßen vorausschauenden Planung – also mit einem Blick in die Programmzeitschrift – inzwischen nicht mehr auf die „Tagesschau“ angewiesen ist, wenn man Anrufer beschämen will: „Ach, du siehst die Dokumentation auf Arte nicht? Aber du verstehst sicher, dass ich sie nicht versäumen will. Kann ich dich später zurückrufen?“

Nun lässt sich einwenden, dass meine Großmutter das Telefon ja einfach hätte weiter klingeln lassen können. Wer so einen Unfug redet, muss unter 30 sein. Früher hat das niemand geschafft. „Es gibt ja vielleicht Leute“, schrieb Kurt Tucholsky, „die ihre Geliebte, die auf den Knien vor ihnen winselt – bitte, das habe ich selbst im Kino gesehn! – kalt liegenlassen, und wenn sie aufschreit: ‚Ich schieße mich tot!‘ begütigend sprechen: ‚Mein Revolver liegt hinten in der Nachttischschublade!‘ – so kalte und herzlose Menschen gibt es. Aber einen Menschen, der ein Telefon klingeln lässt und nicht an den Apparat geht –: den gibt es nicht.“

Tucholsky und meine Großmutter haben in Zeiten gelebt, in denen es keine Mailbox und keinen Anrufbeantworter gab. Wer heute souverän das Klingeln ignoriert, braucht sich darauf gar nichts einzubilden. Wenn man sich beim Schicksal nachträglich durch das Eintippen von ein paar Ziffern erkundigen kann, was es gerade mit einem vorhat, dann ist es keine Kunst, das Schicksal warten zu lassen.

Der technische Fortschritt hat die Zahl der Genervten übrigens nicht insgesamt verringert. Nur verlagert: Heute sind es häufiger die Anrufer als die Angerufenen. Im Fernsehen muss allerdings nie jemand auf die Mailbox sprechen. Da gehen die Leute immer noch alle dran, genau wie in den Kinderjahren der bewegten Bilder. Und wenn sie nicht drangehen, dann wird damit eine dramatische Situation angekündigt. Es ist also überhaupt gar nicht wie im wirklichen Leben.

Die Neugierde der Menschen vermögen auch die neuen Erfindungen nicht zu ersticken. Das merkt man, wenn man sich verwählt und einen wildfremden Namen auf dem Anrufbeantworter hört. Ein paar Stunden später meldet sich dann der Fremde mit ebenso hoffnungsvoller wie begieriger Stimme: „Ich sehe auf meinem Display, dass Sie versucht haben, mich zu erreichen. Worum ging’s?“ Kaum bringt man es übers Herz, ihm zu sagen, dass es um gar nichts ging. Wie schrieb Tucholsky? „Immer erwarten sie die Sensation, und immer ist es Pimpernoll.“ Manches ändert sich halt nie.

Anderes schon. Früher war es möglich, glaubhaft zu versichern, dass man mehrfach angerufen und einfach nie jemanden erreicht habe. So ein Pech! Natürlich waren solche Lügen leicht durchschaubar. Aber sie ließen sich nicht nachweisen. Umgekehrt ist es vor der Erfindung des Anrufbeantworters auch möglich gewesen, sich selbst einzureden, man sei bestimmt gerade nicht zu Hause gewesen, als der lang erwartete Anruf kam. Das geht heute nicht mehr. Und es gibt etwas, das ist noch schlimmer als das Klingeln des Telefons in den letzten fünf Minuten vom „Tatort“: Wenn ein dringend erwünschter Anruf überhaupt nicht kommt. Das kann einem jeden Spaß an Krimis verderben. Vielleicht war früher doch alles besser.

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