zwischen den rillen: Jesus liebt sie: Mick Jagger und Lenny Kravitz huldigen dem Gott des Mammons
Epiphanie im Fitness-Studio
Die Briten beweisen Geschmack. Gerade mal 954 Exemplare sollen am Erstverkaufstag in England über die Tresenbretter gegangen sein: Genau die Watsche, die der Rolling-Stones-Lautsprecher für sein viertes Soloalbum „Goddess in the Doorway“ verdient hat! Denn wenn er die Klappe aufreißt, klingt Mick „The Lip“ Jagger zwar noch immer wie der Alte. Aber was dann inhaltlich aus dem Trademark-Schlund herauskommt und was drumherum tuckert und schabt, ist eine ganz andere Geschichte.
Eine hässliche Geschichte. Erschreckender Anfang. Öder Hauptteil. Unversöhnlicher Schluss. Bräsig bringt „Visions of Paradise“ das Unternehmen auf Kurs Middle of the Road. Eine Gasse, so hohl, dass schon bei Stück 2 („Joy“) mit Pete Townshend der erste Gast beim Händchenhalten für komplett sinnfreien Yuppie-Blödsinn wie „And I drove across the Desert / I was in my four-wheel drive / I was looking for the Buddha / And I saw Jesus Christ“ dran glauben muss: O Jesus!
Es folgt: Eine Hausfrauenballade mit ebensolchen Lyrics im Radio-NRJ-Sound um einen vom Wege Abgekommenen, der sich die Zeit mit Tanzen unterm Sternenlicht vertreibt („Dancing in the Starlight“). Seichtes für die Konfektwerbung zu zweit („Hide away“ mit Gästeopfer 2, Wyclef Jean). Gefolgt von halbherzigen Midtemporockern im halben Dutzend, mal altmodisch wie einst die zweite Liga, mal modern wie der durchschnittliche MTV-Salonrocker und -popper heute – und nirgends auch nur ein Schimmer von der Schärfe der Stones oder auch nur dem Sendungsbewusstsein, der Inbrunst oder zumindest der Stilsicherheit früherer Jagger-Solos. Geschweige denn von einem Gedanken, der es wert wäre, weitergereicht zu werden.
Nur bei der ersten Single-Auskopplung „God gave me everything“ geht’s – wenn auch textlich strikt auf traurigem „Jesus liebt dich“-Niveau – zumindest musikalisch ab: Der Dank dafür geht an Nachwuchs-Jagger Lenny Kravitz, der das einzige Stück des Albums, das nicht wie gemacht scheint für „Wetten daß!?“, mitgeschrieben hat, fast alleine eingespielt und produziert. So hat „God gave me everything“ wenigstens etwas von dem Druck, den auch Kravitzens sechstes eigenes Album „Lenny“ vom ersten Ton an hat.
Kravitz’ Message ist simpel, sein Gebrauchswert entsprechend hoch: Muckis warm halten, Tattoos pflegen, bisschen Piercing, Sonnenbrille auf und immer schön geradeaus rocken sind im Jahre 32 nach dem großen Woodstock-Ausverkauf nicht die schlechtesten Ziele für einen Rockmusikanten. Zumal Kravitz sich gegenüber Jagger auch noch im Vorteil befindet, letztlich nie wirklich für wesentlich mehr gestanden zu haben als für schönen Schein. Spätestens seit er, gerade mal im neunten Jahr seiner Karriere, „Fly away“ an eine Autofirma verhökerte, ist sein Image zementiert: Zeitgeist, Yuppie, Luxuslotterleben – Ende.
So sparsam die Variationen des bekannten Kravitz-Rocks, so zahlreich die Produkte und Dienstleistungen, die damit beworben werden. Als da wären: „Lenny“ selbst, Fitness-Studios, Tattoo-Shops, Piercing-Salons, jedes Massenmusikmassenmedium der Welt.
Einst standen Jagger und die Stones für ebenso sinnliche wie radikale Attacken gegen die westlichen Establishments und ihre Grundidee: zu kaufen, wofür sie keine Argumente haben. Heute ist zumindest Mick Jagger der personifizierte Mammon höchstselbst. Mal sehen, wie viele Fliegen sich darüber in Deutschland irren.
CHRISTIAN BECK
Mick Jagger: „Goddess in the Doorway“ (Virgin), Lenny Kravitz: „Lenny“ (Virgin)
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