: Ein Krieg am Rande
Israel und Palästina haben bis heute nicht begriffen, dass der „Kalte Krieg“ zu Ende ist. Sie wollen nicht sehen, dass der Nahost-Konflikt nur noch regionale Bedeutung hat
Viele Laien glauben, die Geschichte wiederhole sich. Professionelle Historiker sind im Umgang mit dieser Floskel skeptischer – aber auch sie finden immer wieder historische Analogien, denen sie dann meistens voller Vorsicht die Worte „mutatis mutandis“ an die Seite stellen.
Vergleicht man die gegenwärtige Lage im Nahen Osten mit der Situation vor zehn Jahren, dann liegen die Parallelen auf der Hand. Heute wie damals haben Israelis und Palästinenser jeweils nur ein Ziel vor Augen: Die Israelis wollen die Intifada der Palästinenser bekämpfen, ohne dabei allzu viel Sand in das Getriebe der sich im überregionalen Konflikt befindenden US-Kampfmaschine zu streuen. Die Palästinenser dagegen versuchen, ihre Intifada erfolgreich fortzusetzen, ohne bei der Suche nach Alliierten in das antiamerikanische Lager zu geraten.
Ging es im Golfkrieg 1991 weltpolitisch um die amerikanische Koalition gegen den Irak Saddam Husseins, so tritt heute die internationale Allianz eben gegen Afghanistan und Ussama Bin Laden an. Verblüffend ist aber auch ein anderer, gleich gebliebener Umstand: Israel und die palästinensische Führung haben weder damals noch heute begriffen, dass der „Kalte Krieg“ beendet ist und der israelisch-palästinensische Konflikt in der Weltpolitik stark an Wert verloren hat. Mehr noch: Bereits 1991 hatte man feststellen können, dass Israel nicht mehr ein Gewinn, sondern eher ein Balast für die Weltpolitik der USA geworden war.
Statt wie im „Kalten Krieg“ als Exerzierplatz für amerikanische Waffen und als „Vorposten“ der westlichen Welt im Kampf gegen das „Evil Empire“ zu fungieren, war Israel bereits damals quasi zu einer „Kleinmacht“ geworden, die der amerikanischen Allianz wenig hilfreich sein konnte und die nicht einmal zur Selbstverteidigung in der Lage war. Im Jahre 2001 ist Israels Situation noch schwieriger: Im großen Kampf um „die Zivilisationen“ steht das Land im totalen Abseits und hat sogar seine klassische Opferrolle eingebüßt.
Auch die Palästinenser hatten bereits 1991 entdecken müssen, dass sie zum einen mit dem Verlierer – Saddam Hussein – paktiert hatten, zum anderen aber nicht mehr im Zentrum des Interesses der Weltöffentlichkeit standen. Und auch auf palästinensischer Seite wird die Gegenwart ähnlich erfahren wie auf der israelischen: Was im Westjordanland und im Gaza-Streifen geschieht, kommt nur noch selten auf die erste Seite der Tagespresse. Diese Marginalisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts erscheint nun allerdings geradezu paradox, da man eigentlich annehmen müsste, der Nahe Osten befinde sich im Mittelpunkt des von Huntington beschriebenen globalen „Clash of Civilizations“. Doch ist dieses Paradox letztlich nur ein weiterer Beweis dafür, dass es gerade im Auge des Wirbelsturms manchmal relativ ruhig ist.
Die Unterschiede zwischen 1991 und 2001 sind durchaus beachtlich und vor allem deprimierend – man hat allzu wenig dazugelernt, während Hass und Gewaltbereitschaft noch zugenommen haben. Die zweite Intifada ist erst ein Jahr alt, aber bereits jetzt steht fest, dass der Preis an Menschenleben pro Jahr höher ist als während des ersten palästinensischen Aufstandes. Man kann sich ausrechnen, wie viele Menschen – Palästinenser und Israelis – ihr Leben verlieren werden, wenn die zweite Intifada ebenfalls vier Jahre bis zu einer zweiten Madrider Friedenskonferenz oder sechs Jahre bis zum nächsten Oslo-Abkommen dauern wird. Eine düstere Zukunft!
Das „Rahmenprogramm“, also die überregionale Krise, dauerte damals ganze sieben Monate und endete mit einem klaren Resultat, das zur Madrider Friedenskonferenz für den Nahen Osten führte. Diesmal könnte der bereits mehr als zwei Monate währende Konflikt, der „Kreuzzug gegen den Terror“, länger anhalten, wie sich Äußerungen aus Washington entnehmen lässt. Das würde die Position der USA als wesentlicher Vermittler im Nahen Osten erheblich erschweren. Und nebenbei bemerkt: Der damalige israelische Ministerpräsident Jitzhak Schamir verhielt sich vorsichtiger als Ariel Scharon.
Hinzu kommt, dass man 1991 das Ziel der Befreiung Kuwaits und der Niederschlagung des Iraks erreicht hatte, auch wenn Saddam Hussein letztlich am Leben und an der Regierung blieb. Heute scheint das Ziel der Koalition – der Sieg über den internationalen Terror – eher utopisch zu sein, wodurch die Hoffnungen auf eine baldige erneute Zuwendung des globalen Interesses zum israelisch-palästinensischen Konflikt zu einer Illusion werden.
Selbst wenn die Großwetterlage heute eine andere wäre – eine Wiederholung der Schritte, die Anfang der Neunziger über Madrid nach Oslo führten, scheint ausgeschlossen; denn es sind heute vor allem die Europäer, die eine zweite Auflage der Madrider Konferenz anstreben. Die mentale Einstellung der am Konflikt unmittelbar beteiligten Gegner hat sich dagegen grundsätzlich geändert: Die meisten Israelis glauben nicht mehr an die Bereitschaft der Palästinenser, mit Israel in Frieden leben zu wollen; und die meisten Palästinenser glauben nicht mehr daran, dass Israel jemals auf die besetzten Gebiete verzichten wird.
Die Hoffnungen, die man seinerzeit auf die Eigendynamik des Oslo-Prozesses gesetzt hatte, verflüchtigten sich spätestens zwischen November 1995 und März 1996, also zwischen der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin und der ersten Welle der Selbstmordattentate der Hamas-Bewegung. Die tiefe Desillusionierung der Palästinenser und Israelis hat Zynismus und Grausamkeit genährt. Die innere Dynamik des Konflikts hat sich von einer rationalen Zielsetzung verabschiedet – Schlag und Gegenschlag, Vergeltung und Rache sind heute nicht mehr zu kontrollierende Reflexe. Heute aus diesem Teufelskreis der Gewalt auszusteigen, ist wohl wesentlich schwieriger als beim ersten Versuch im Jahre 1993.
Meinungsumfragen bestätigen, dass beide Seiten sich radikalisiert haben, dass beide Seiten das Gerede von „Sieg“ und „Kapitulation“ den sprachlichen Wendungen von „Kompromiss“ und „Verständigung“ vorziehen. Diese Radikalisierung beruht im Wesentlichen auf Missverständnissen und auf der Fehleinschätzung der Absichten der jeweiligen Gegenseite. Versagen ist dabei hauptsächlich den Israelis anzulasten, die als Besatzungsmacht die Tatsache verdrängen, dass es seit 1996 vor allem die Politik Israels war, die den Oslo-Prozess erdrosselt und die Verzweiflung der Palästinenser ins Extreme getrieben hat. Man spricht nur vom palästinensischen Terror, nicht aber vom Terror gegen die Palästinenser, weil das Verhalten der Besatzer unter diesem Begriff nicht thematisiert wird.
Und damit kommen wir zu einem weiteren Unterschied im Vergleich zu 1991. Damals war Israel eindeutig im Lager der „guten Kräfte“ zu finden. Nach dem 11. September ist die Zugehörigkeit Israels zum einen, der Palästinenser zum anderen Lager nicht mehr so eindeutig. Zwar glaubte man in Israel im September zunächst noch, dass diesmal die Fronten klarer abgesteckt seien als zuvor: Wenn Bushs „Kreuzzug gegen den Terror“ mit dem Krieg gegen islamistischen Terror gleichzusetzen ist, so ließe sich Israels Kampf gegen Hamas und Dschihad hier perfekt einordnen. Daran hält die israelische Rechte – gegenwärtig immerhin eine Bevölkerungsmehrheit – noch im November 2001 fest. Nur versteht man in Israel nicht, dass Bush sich keinen „Kreuzzug gegen den Islam“ erlauben kann. Außerdem ist unklar, ob die Verwendung des Terrorbegriffs nicht gerade für Israel ungünstig ausfallen mag.
Sogar die israelische Rechte muss zugeben, dass die Rolle des Judenstaates in der Auseinandersetzung zwischen Zivilisationen, zwischen den zwei stärksten monotheistischen Religionen, sich von Fall zu Fall ändern kann. Zwar stellt sich Israel gegenwärtig politisch auf die Seite der christlichen und – ihrer Selbstbezeichnung nach – zivilisierten Welt gegen die Welt des Islam. Aber was geschah beim WM-Relegationsspiel zwischen Österreich und der Türkei? Da unterstützte die israelisch-jüdische Öffentlichkeit die Fußballmannschaft der Muslime gegen die der Christen, weil im eigentlichen „Weltkrieg“, also dem auf dem Fußballfeld, Israel das entscheidende Spiel gegen Österreich bereits verloren hatte und jetzt nur noch per Stellvertreter zur Vergeltung gelangen konnte. Damit aber haben wir den Vergleich zwischen 1991 und 2001 verlassen und sind in das Jahr 1683 zurückversetzt – mutatis mutandis natürlich. MOSHE ZIMMERMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen