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Die Erfindung eines Lügners

Als wir nicht mehr zwischen seriös und witzig unterscheiden wollten: Archäologische Grabungen auf einer letzten Zeitungsseite

taz-archäologisch gesehen, hat die Wahrheit ihren Ursprung in den frühen Achtzigerjahren. Anette Eckert und ich waren damals für die Kulturseiten verantwortlich, und weil uns die im vorderen Teil der Zeitung gepflegte Unterscheidung zwischen „Kommentar“ oder „Querspalte“ – „seriös“ oder „witzig“ – nicht einleuchten wollte, richteten wir eine tägliche Kolumne für Autoren ein, die mindestens beides simultan beherrschten. Da kommentierte dann Sophie Behr als „Nasenbär“ die olfaktorischen Sensationen des Alltags, Werner Pieper als KPD-Fachmann (Kräuter, Pillen, Drogen) das erweiterte Bewusstsein, und Wolfgang Neuss erklärte kurz und knackig den Faschismus: „Im Grunde seines Herzens war Hitler blond!“

Neben derlei wahrheitgemäßen Kommentaren führten wir auch ein Genre ein, das mittlerweile nicht nur der Süddeutschen Zeitung Kummer macht, bei uns aber nicht selbstverliebter „Borderline“-Betrug war, sondern als kritisches Wahrnehmungswerkzeug eingesetzt wurde: den Fake. Ein Höhepunkt der Fälschungsoffensive war die lange Rede von Richard von Weizsäcker, im täuschend echten, original humanoiden Salbader-Sound, die wir veröffentlicht hatten: Auf der Buchmesse signierte uns der Bundespräsident diese Seite mit seinem Autogramm. Solche Fakes im Dienste der Wahrheit sorgten hausintern oft für Ärger, weil wir uns weigerten, die fiktiven Reportagen und Interviews mit „Vorsicht, Fälschung!“ oder „Achtung, Satire!“ zu kennzeichnen. Was von matriarchalischen Sexpraktiken, Klaus Theweleits angeblicher Neonazitherapie oder einem Beitrag über „Bimbophilie“ am Beispiel des Asyl suchenden Bongo Banana zu halten war, sollte den intelligenteren Lesern selbst überlassen bleiben.

Dieser konstruktivistische Umgang mit der Wahrheit sabotierte selbstverständlich den Anspruch der anderen Ressorts, täglich tatsächlich die Wahrheit zu verkünden. Im Zuge der ab Mitte der Achtzigerjahre einsetzenden „Professionalisierung“ der taz wurden diese medialen Guerillataktiken immer schärfer kontrolliert, nicht nur was die Fakes, auch was Wortwahl und Denkfreiheit der Autoren betraf. Nach dem „gaskammervoll“-Schauprozess gegen Thomas Kapielski, der die Kulturkollegin Vogel den Job kostete – damals war Kapielski noch Kleinkünstler und kein Bestsellerautor, einer solchen „Autorität“ hätten die Professionalisierer den Ausdruck selbstverständlich durchgehen lassen –, wurde es dann so grabesstill und langweilig auf den hinteren Seiten, dass auch die selbst ernannten Profis merkten, dass der taz etwas fehlte. Ich hatte ein Jahr als Reporter gearbeitet, Karl Wegmann gerade eine halbe Stelle in der Medienredaktion abgegeben, so dass wir uns sagten: „Lass uns eine letzte Seite machen.“ Da es nichts kostete, weil wir ohnehin fest angestellt waren, und unser Dumpfargument, dass nun mal jede „professionelle“ Zeitung eine lustige letzte Seite hat, den meisten einleuchtete, konnten wir loslegen. Françoise Gerdes und Stefan Affentranger lieferten das bis heute defintive Layout, Lillian Mousli und ©Tom die Cartoons, Sotscheck, Droste & Co. sorgten für die Kolumnen – und nach langem Grübeln über einen passenden Titel fand Imma Harms den definitiv erleuchteten Namen: „Die Wahrheit“.

Dass das jetzt alles zehn Jahre lang nahezu unverändert blieb, während der Rest des Blatts mehrfach reformiert und redesigned wurde, ist kein Wunder – vom Start weg war die Wahrheit die meistgelesene Seite der taz, und das ist sie bis heute. Wohltuend unterschieden von dem Gesabbel der bunten Tickermeldungen, die die anderen Tageszeitungen auf ihren letzten Seiten präsentieren – und zumal in Kriegszeiten, deren erstes Opfer bekanntlich die Wahrheit wird, deren letztes Asyl und Domizil. Wo generell gelogen wird, ist da, wo „Wahrheit“ drübersteht, dann noch am ehesten welche drin. Und in Friedenszeiten, wenn alle wieder die Wahrheit sagen, macht die Verdopplung auf der letzten Seite uns dankenswerterweise jeden Tag deutlich, dass die Wahrheit die Erfindung eines Lügners ist.

Also: Tusch! Prosit! Bom Shankar! Auf die nächste Dekade!

MATHIAS BRÖCKERS

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