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Gewohnter Wahnsinn

Ein Jahr danach: Was von der Krise übrig blieb  ■ Von Sandra Wilsdorf und Gernot Knödler

Für die einen war es ein Schock, für die anderen eine schon lange vermutete Tatsache: Genau heute vor einem Jahr kam die Nachricht vom ersten deutschen BSE-Rind. Es hatte sein ganzes Leben in Schleswig-Holstein verbracht und machte seinen Besitzer zu einer traurigen Berühmtheit. Jeder kannte plötzlich Bauer Peter Lorenzen und jeder wusste, dass Hörsten ein kleines Kaff im Kreis Rendsburg-Eckernförde ist. 70 Bewohner wurden von vermutlich fünfmal so vielen Journalisten befragt, beobachtet, mit Scheinwerfern beleuchtet. Damit jeder Peter Lorenzen begeleiten konnte, wie er durch seinen leeren Stall ging, nachdem seine 166 Rinder geschlachtet und in der Müllverbrennungsanlage verbrannt worden waren.

„Ein kleines Dorf unter BSE-Schock“ titelte damals die Nachrichtenagentur dpa. Doch es war viel mehr: „Ein Land unter Schock“ hätte es heißen müssen, in den kommenden Wochen gab es in deutschen Medien kaum ein anderes Thema als BSE. Denn das Tier in Hörsten war erst der Anfang. Täglich kamen neue Meldungen von Verdachtsfällen und tatsächlichen Erkrankungen. Es gab Fragen über Fragen: Sind Gummibärchen gefährlich? Dürfen Wunden mit Fäden aus Rinderdarm genäht werden? Darf ich noch Fleisch essen? Überträgt sich BSE schon über das Gras der Weiden? Schleswig-Holstein und Hamburg richteten Hotlines ein, stündlich riefen über 100 besorgte Bürger an. Der Rindfleischmarkt brach zusammen, die Branche meldete Kurzarbeit an.

Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) kostete die Krise das Amt, und auch in Hamburg geriet Gesundheitssenatorin Karin Roth (SPD) für ihr Krisenmanagement in die Kritik, beispielsweise als sie nicht sagen wollte, welche Wursthersteller weiterhin Rindfleisch verwendeten, obwohl sie das Gegenteil behaupteten.

Es galt Handlungsfähigkeit zu zeigen. Bereits im Januar war das Hygiene-Institut in der Lage, alle amtlichen BSE-Tests in Hamburg durchzuführen. Ein entsprechendes, allerdings viel größer ausgelegtes Labor in Schleswig-Holstein wird am 1. Dezember mit der Arbeit beginnen. Die Helden aus der Zeit der Krise, die Mitarbeiter des molekularbiologisches Labors Artus am Michel, die das erste deutsche BSE-Rind ausgemacht hatten, sind darüber nicht glücklich. Sie fühlen sich ausgenutzt, weil sie investiert haben und ihnen der Staat jetzt Konkurrenz macht, während er in den Hochzeiten der Krise auf das Labor angewiesen war.

Diese spitzte sich im März weiter zu: Als sich auch noch die Maul- und Klauenseuche ausbreitete, sollte der Castor-Transport abgesagt werden, auf dem Wedeler Ochsenmarkt gab es keine Ochsen mehr, auf dem Fischmarkt nichts Lebendiges mehr außer Fischen und etliche Wildgehege wurden geschlossen.

Am Anfang wurde für einen BSE-Verdachtsfall im schleswig-holsteinischen Landtag noch die Debatte unterbrochen, Essen war ein großes Thema. Vegetarier wurden wahlweise beneidet oder an ihre Zeit vor dem Fleischverzicht, an die Gelatine im Pudding oder an die Medikamente erinnert. Die einen fühlten sich bestätigt, die anderen verunsichert. Vielen Menschen machte das Essen keinen Spaß mehr. Ein Dithmarscher Kalb wurde auf den Namen Jeanne d'Arc getauft und zum Symbol bäuerlichen Widerstands gegen das Schlachten ganzer Herden bei einem BSE-Fall.

Und irgendwann, als viele Fleischfresser, die den Tofu nicht mehr sehen konnten, immer noch fanden, dass Spaghetti ohne Bolognese eine Zumutung und eine Mahlzeit ohne Fleisch „nichts Richtiges“ ist, setzte sich wohl das „irgendwann muss jeder sterben“ oder der Trotz gegen „nix darf man mehr essen“ durch. Menschen und Medien gewöhnten sich an Deutschland als rinderwahnsinniges Land. Man hörte auf, die BSE-Rinder zu zählen, und so sind die letzten Tiere weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit notgesschlachtet worden: 124 sind es bis jetzt in Deutschland, 12 davon in Schleswig-Holstein.

Nur für wenige hat die BSE-Krise wirklich etwas verändert: Für die Rinderbauern, die heute Not leiden, für Konsumenten, für die ökologische Nahrungsmittel eine Offenbarung waren, die sie nicht mehr missen möchte und für manchen Fleischermeister, der jetzt Fleisch von glücklichen Tieren verkauft.

Was sonst noch von der Krise übrig blieb? Peter Lorenzen hat wieder eine neue Herde, 100 Tiere stehen in seinem Stall. „Die Milchleistung ist in Ordnung. Ich kriege die Milchquote voll“, sagt der 39-Jährige nüchtern. Reden über das Ganze mag er auch 12 Monate später eigentlich nicht. Lorenzen schaut lieber nach vorne. „Ich bin ein positiv denkender Mensch und habe mit meinen Tieren genug zu tun.“ Er ist sauer auf Politiker, die „zu viel kaputt geredet und zu wenig getan“ hätten.

Ein bisschen weiter im südwestlich geht es Jeanne d'Arc gut. Dick und rund freut sich das Symbol bäuerlichen Widerstands seines Daseins. Ab und zu kommt Timms kleiner Sohn Malte zum Schmusen. Die junge Bäuerin hatte Jeanne sieben Monate lang vor Behörden und Journalisten versteckt.

Das wenige Stunden alte Kälbchen sollte, wie damals üblich, zusammen mit der ganzen Herde getötet werden, weil eines der Tiere an BSE erkrankt war. Dithmarscher Bauern verhinderten seinen Abtransport durch die Behörden. Es folgte ein medienwirksamer Streit und die Gründung einer Interessengemeinschaft Jeanne d'Arc. Die schleswig-holsteinische Landwirtschaftsministerin Ingrid Franzen (SPD) bot als Kompromiss an, das Kälbchen auf der Ostsee-Insel Riems zu isolieren. Doch die Dithmarscherin blieb stur. Schließlich erhielt sie das Versprechen, dem Tier werde kein Haar gekrümmt und es tauchte aus dem Untergrund auf.

Inzwischen sind auch die Behörden von der Forderung abgerückt, bei einem BSE-Fall sei jeweils die ganze Herde zu schlachten. Heute wird nur noch die sogenannte Kohorte getötet, das heißt der Geburtsjahrgang des infizierten Tieres, dessen Geschwister und direkte Nachkommen. Jeanne d'Arc ist jetzt sicher, und Michaela Timm freut sich darauf, dass die Rotbunte ab dem übernächsten Jahr selbst kalben und Milch geben kann.

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