Afghanistan braucht vor allem Nahrung und Arbeit

Die Weltbank berät ab heute im pakistanischen Islamabad über den Wiederaufbau. Es fehlen alle wichtigen wirtschaftlichen Institutionen

BERLIN taz ■ Wenn heute bei Bonn die UNO-Konferenz beginnt, treffen sich im pakistanischen Islamabad Vertreter der Weltbank. Auch hier ist das Thema der Wiederaufbau Afghanistans. Die Weltbank, zuständig für die Finanzierung von Entwicklungsprojekten, hat einen Leitfaden entworfen: Was braucht das Land, wie lässt sich der Neubeginn schaffen, was wird er kosten?

Afghanistan brauche „so ziemlich alles“, um eine Chance zur Entwicklung zu haben, sagte William Byrd, der bei der Bank für das Land zuständig ist, auf einer Pressekonferenz Mitte November in Washington. „Dienstleistungen wie Erziehung und Gesundheit haben schon vor der sowjetischen Invasion 1979 den größeren Teil der Bevölkerung nie erreicht.“ Die Herausforderung sei, so Byrd, nicht einfach die Rückkehr zum Vorkriegszustand der späten Siebziger, denn dann bliebe Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt.

Auch heute liegt die Kindersterblichkeit in Afghanistan so hoch wie fast nirgendwo sonst. Beinahe jedes fünfte Baby stirbt kurz nach der Geburt. Jedes vierte Kind erlebt seinen fünften Geburtstag nicht, die meisten sterben an Hunger oder Durchfall, aber auch an Kinderlähmung, gegen die es längst Impfstoffe gibt. Die durchschnittliche Lebenserwartung im Land liegt bei 40 Jahren. Fast zwei Drittel der Erwachsenen können nicht lesen und schreiben, bei den Frauen kann das sogar nur jede fünfte. Nicht einmal jedes dritte Kind geht in die Schule.

Obendrein ist Afghanistan eines der Länder, die am stärksten vermint sind. Jeden Monat sterben etwa 500 Menschen, weil sie auf eine Mine getreten sind. Eine Fläche von 700 Quadratkilometern ist verseucht. Etwa die Hälfte ist Land, auf dem Ackerbau möglich wäre. Räumte man allein die Minen entlang der Hauptstraßen, entstünde dem Land ein Mehrgewinn von 250.000 Dollar pro 50 Kilometer Strecke, weil Umwege für Reisende und Transporteure wegfallen würden. Nach Schätzung der Weltbank würde die Beseitigung der Minen 500 Millionen US-Dollar kosten.

Am wichtigsten, so der Weltbank-Leitfaden, sei es jetzt, dass die Bauern wieder Getreide, Obst und Gemüse anbauen, dass rückkehrende Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt bestreiten können, etwa indem sie eine Viehherde aufbauen oder aber über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Auch müssten Menschen ausgebildet werden für öffentliche Ämter, als Krankenschwestern, Lehrer, Energiefachleute oder Straßenbauer. Vor allem Mädchen sollen in die Schule gehen dürfen. Byrd: „Wir haben es mit einer Generation von Mädchen und Frauen zu tun, die nie Zugang zu Bildung hatten.“

Darüber hinaus fehlen in Afghanistan aber auch alle wichtigen wirtschaftlichen Institutionen: eine Zentralbank, ein funktionierendes Bankensystem, ein Kreditwesen, eine Steuerbehörde, eine Zollbehörde, ein Finanzministerium, eine Justiz. Es braucht einen Energieversorger, einen Wasserversorger, eine Müllabfuhr. Und natürlich ein Sozialsystem mit Kranken- und Rentenversicherung. „Zurzeit ist die Wirtschaft kollabiert“, fasst der Weltbankleitfaden die Lage zusammen. „Die dreijährige Dürre, das Taliban-Verbot des Opiumanbaus, die Flüchtlingswelle und das Abwürgen des Handels über Pakistan haben dem Land den Rest gegeben.“

Zur Finanzierung schlägt Weltbankchef James Wolfensohn einen Fonds vor, in den die Weltbank sowie ihre Mitgliedsländer einzahlen. Ein solcher Fonds verhindere, dass jedes Land seine eigenen Projekte aus seinem eigenem Topf finanziere und unnötig Bürokratie aufbaue. Wolfensohn: „Auch für die Afghanen ist es einfacher, wenn sie mit einem einzigen, gemeinsamen Fonds der Geberstaaten zu tun haben.“

Der Fonds sollte über die Projektfinanzierung hinaus den ersten Haushalt der neu zu etablierenden Regierung Afghanistans ausstatten und die Nichtregierungsorganisationen (NGO) unterstützen, die „eine extrem wichtige Rolle spielen werden“, sagt Wolfensohn. Wie viel Geld der Fonds benötigen wird, sei noch nicht abschätzbar. In Afghanistan leben rund 20 Millionen Menschen. Nimmt man Palästina als Maßstab, wären also bis 2003 mindestens 30 Milliarden US-Dollar Hilfe nötig.

Afghanistan liegt da wie ein brachliegendes Feld, das die Weltbank nach ihrem Willen bestellen kann. Dass sie das Land im Sinne ihrer Philosophie beraten wird, machte Wolfensohn im Vorfeld der Tagung deutlich: „Keine überzentralisierte Regierung. Dienstleistungen sollten möglichst von NGOs und privaten Unternehmen angeboten werden.“ KATHARINA KOUFEN