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Angriff aufs Immunsystem

Krankenkassen wollen Kosten für ein Aidspräparat nicht mehr übernehmen und fordern Geld zurück. Für die zehn Aids-Praxen in der Hauptstadt geht es nun um Millionensummen und um die Existenz

von SABINE AM ORDEund ULRICH SCHULTE

Mehr als der Hälfte der Arztpraxen, die schwerpunktmäßig Aidskranke behandeln, droht nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) der Bankrott. „Das bundesweit beispielhafte Versorgungsnetz der Stadt ist in Gefahr“, sagte gestern KV-Sprecherin Annette Kurth. In Berlin behandeln zehn so genannte Schwerpunktpraxen 80 Prozent der etwa 4.000 HIV- und Aidspatienten der Stadt.

Hintergrund ist ein Streit, der schon lange zwischen den Krankenkassen und den niedergelassenen Aidsärzten schwelt – und jetzt eskaliert ist. Anlass dafür ist ein Medikament, das seit 1997 in der Behandlung eingesetzt wird: Immunglobulin. Das sind Abwehrkörper, die aus gesundem Blut gewonnen und dann Aidserkrankten gespritzt werden.

Bisher haben die Krankenkassen die Kosten für dieses Medikament übernommen. Doch damit soll ab Mitte Dezember Schluss sein. Und nicht nur das. Die Kassen fordern bereits gezahlte Behandlungskosten zurück: Der KV liegen Regressanträge über 2,2 Millionen Mark vor. „Auf jede der Praxen, die Immunglobulin verschrieben haben, kommen Forderungen in fünf- bis sechsstelliger Höhe zu“, sagt KV-Sprecherin Kurth.

Manche der Praxen könnten diese Rückzahlungen finanziell nicht verkraften. Laut AOK-Bereichsleiterin Sabine Richard müssten die Praxen mit weiteren Forderungen in Millionenhöhe rechnen. Alle Behandlungen kosteten allein im vorigen Jahr berlinweit 5 Millionen Mark. Eine Ampulle des Mittels schlägt mit 1.600 Mark zu Buche, sie muss alle zwei Wochen verabreicht werden.

Umstritten zwischen Ärzten und Krankenkassen ist die Wirksamkeit des Medikaments. Das Problem: Immunglobulin ist für diese Art der Anwendung offiziell gar nicht zugelassen. „Es gibt auch keine wissenschaftlichen Versuche, die die Wirksamkeit eindeutig belegen“, argumentiert Richard, die selbst Ärztin ist. „Individuelle Erfahrungen einzelner Ärzte reichen uns als Beleg nicht aus.“

Die Ärztin Elke Lauenroth-Mai, die eine Aidsschwerpunktpraxis betreibt und die Verhandlungen für die Ärzte führt, sieht das anders: „In schweren Einzelfällen verringern Immunglobuline deutlich das Risiko zusätzlicher Infektionen wie Lungenentzündungen.“ Lauenroth-Mai pocht auf den Freiraum der Ärzte, der durch das Krankenkassen-Veto massiv beschnitten werde. Gerade in der jungen Aidstherapie gebe es monatlich neue Ergebnisse, deshalb müsse der Arzt experimentieren können.

Ähnlich argumentiert auch die Berliner Aids-Hilfe. Für erfahrene Ärzte müsse es einen Ermessensspielraum geben, sagt Geschäftsführer Kai-Uwe Merkenich. „In begründeten Einzelfällen brauchen Ärzte die Möglichkeit, wissenschaftlichen Ergebnissen in der täglichen Therapieentscheidung vorzugreifen.“

Die KV fordert nun vor allem neue Verhandlungen mit den Kassen. Neu bewertet werden müssten, so KV-Sprecherin Kurth, sowohl die „massiven Rückzahlungsforderungen“ als auch der künftige Einsatz des umstrittenen Medikaments. An alle Ärzte aber sei zunächst die „dringende Empfehlung“ gegangen, Immunglobulin nicht mehr zu verwenden. Auch AOK-Bereichsleiterin Richard signalisiert Gesprächsbereitschaft: „Wir wollen die Hilfsstruktur der Stadt nicht gefährden.“

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