: Atem der Vergangenheit
Martin Shermans „Rose“ an den Kammerspielen ■ Von Liv Heidbüchel
Atmen ist eins der wenigen Vergnügen, die ihr noch geblieben sind, sagt sie. Darauf muss sie sich erstmal eine Zigarette anzünden. Für die Lacher hat sie nur ein gutmütiges Lächeln übrig und eine souveräne, wegwerfende Handbewegung im Sinne eines „Ach, Gottchen!“. Trotz Atemnot quarzt sie ziemlich ohne Unterlass. Und das seit Jahrzehnten. Nun ist Rose achtzig, schluckt Pillen fürs Atmen, Cholesterin sowie „dies und das“ und sitzt Schiwe.
„Schiwe-Sizn“ ist ein jüdisches Ritual, das sich über die Woche nach der Beerdigung eines nahen Menschen erstreckt. In dieser Woche sitzt man auf einer einfachen Holzbank und gedenkt des verlorenen Menschen. So auch Rose. Diesmal denkt sie an ein neunjähriges Mädchen, das bei einer Schießerei zwischen Israelis und Palästinensern ums Leben gekommen ist. Oder erinnert sie sich nicht vielmehr an ihre Tochter Esther, die ebenfalls neunjährig im Warschauer Ghetto getötet wurde?
In Rose, dem Ein-Frau-Stück des amerikanischen Autors Martin Sherman, erzählt die in Worte verliebte Rose ihre Lebensgeschichte und setzt sich so ein Denkmal. Immer wieder wehrt sie sich gegen die Erinnerung, und doch sitzt sie letztlich auch Schiwe, um ihres eigenen Lebens zu gedenken. Denn dass es jemand anders tut, ist unwahrscheinlich.
In der Inszenierung von Adelheid Müther an den Hamburger Kammerspielen sitzt Monica Bleibtreu als Rose inmitten typischer amerikanischer Accessoires wie der Cola-Kühltasche und überdimensionierten Eiscremebechern in einem von Götz Loepelmann ansonsten kahl gehaltenen Raum, dessen einzige Begrenzung das Fenster ist. Durch die Lamellen sieht man Miami Beach im surrealen Mondlicht wie aus einer anderen Welt hereinleuchten. Einerseits.
Andererseits – um das jüdische Motto aufzunehmen – ist dieses Bild ganz offensichtlich eine Projektion, so flüchtig wie Roses Gefühl von Heimat. Aufgewachsen in einem ukrainischen Dorf, fühlte sie sich schon dort nicht zu Hause. Während des Zweiten Weltkrieges überlebte sie im Warschauer Ghetto, dann folgte die Emigration nach Amerika. Besuche in Israel waren selten und eben immer nur Besuche. So ist Rose am Ende aus ihrer Familie und aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen, zeitlebens eine „displaced person“.
Monica Bleibtreu spielt die alte Rose mit beeindruckender Präsenz – immerhin verharrt sie über zwei Stunden lang auf der Holzbank und kann sich nur eingeschränkt körperlich einsetzen. Sie streift das bewegte und sehr charakteristische jüdische Leben der Achtzigjährigen über, als wären die Erinnerungen tatsächlich ihre eigenen. Ihre Hände nesteln an der Kleidung, reiben rastlos über die Knie. In ihrem Gesicht spiegelt sich die Intensität der Vergangenheit in fast greifbaren Gedanken an ihre große Liebe Yussel, dessen Tod sie nie verwunden hat, und an die Familie.
Wunderbar stimmig zu dem großen Monolog ist Mo Tuckers unstete, zarte Stimme in Velvet Undergrounds Afterhours. Es endet mit If you close the door, I never have to see the day again – so wie auch Rose nach ihrer Erzählung endlich Frieden findet. Nun ist der Tenor des Stücks aber nicht nur Melancholie, sondern es transportiert zugleich eine Menge Selbstironie, Galgenhumor und Spott.
Bleibtreu selbst bezeichnete Rose in einem Interview als „spökenkiekerisch“. Als Rose sich etwa daran erinnert, dass sie ihren verlorenen Yussel mit einem Sud aus Spermien, Nelken und anderen feinen Zutaten herbeihexen wollte, läuft Bleibtreu zu Hochtouren auf. Auch dass der bettlägrige Vater von seinem Medizinschrank erschlagen wird, worüber sich Rose noch siebzig Jahre später kaputtlacht, ist ein wichtiger Bruch im Erzählstil. Ein Schlag mehr von diesem Mutterwitz hätte der Inszenierung sicher gut getan.
weitere Vorstellungen: 30. November bis 3. Dezember, jeweils 20 Uhr, Kammerspiele
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