Ein Pazifist im Vernichtungskrieg

Der eindringliche Bericht des Deserteurs Kurt Kretschmann über die Verbrechen der Wehrmacht und die Möglichkeit, nicht mitzumachen

Erinnerungsberichte von ehemaligen Wehrmachtssoldaten überschwemmen zurzeit wieder den Büchermarkt, ausgelöst durch die Debatten über die Rolle der Wehrmacht im Nationalsozialismus. Wenn so ein Bericht jedoch in der Reihe „Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum“ erscheint, dann verspricht er nicht die gewöhnliche Landserromantik. „Und da leben Sie noch?“ ist der treffende Titel der Erinnerungen des antimilitaristisch eingestellten Sanitätssoldaten Kurt Kretschmann, in denen er sich an seine Kriegsjahre in Russland 1942–1944 und seine Desertion erinnert.

Kretschman wurde 1914 geboren, wuchs in einer Arbeiterfamilie auf und las schon früh Ernst Friedrichs „Krieg dem Kriege“, das er als Schlüsselerlebnis seiner Jugend bezeichnet. Friedrich ist das Buch auch gewidmet. Nach seiner Einberufung in die Wehrmacht 1936 geriet Kretschmann ständig mit seinen Vorgesetzten aneinander, da er als Vegetarier und Impfgegner große Probleme mit dem Soldatenleben hatte. Nach psychiatrischen Untersuchungen und Verhören wurde er schließlich entlassen, da er eine „Gefahr für die Moral der Truppe“ darstellte. Als die Wehrmacht später für den Russlandfeldzug jeden Mann benötigte, wurde er erneut eingezogen – obwohl er ethische Gründe gegen Gewalt und Töten vorbrachte. Er musste in Russland bis 1944 als Krankenträger und Sanitäter dienen.

Diese Erlebnisse schildert Kretschmann im ersten Teil des Buchs anhand seiner damaligen Tagebucheinträge und Briefe an seine Frau Erna. In seinen Aufzeichnungen erzählt er eindringlich vom Kriegsalltag an der Ostfront: von Läusen, Seuchen, ständiger Kälte und Hunger, aber auch davon, wie er sich mit seiner antimilitaristischen Überzeugung bei seinen Kameraden unbeliebt machte.

Kretschmann musste miterleben, wie seine Kameraden freiwillig Kriegsgefangene und Überläufer erschossen und somit zu „Hitlers willigen Vollstreckern“ wurden. Dass sie sich durchaus hätten weigern können, zeigt das Beispiel Kretschmann. Zu Recht ist er noch heute stolz darauf, im Krieg keinen Menschen erschossen zu haben. Überaus intensiv beschreibt Kretschmann die Begegnung mit einem feindlichen mongolischen Soldaten, den er medizinisch versorgte. Ein anderes Mal wurde er von seinen Kameraden daran gehindert, verwundeten Russen zu helfen. Er musste mehrfach hilflos zuschauen, wie Soldaten der Wehrmacht die Zivilbevölkerung terrorisierten, selbst kleine Kinder massakrierten und Frauen vergewaltigten.

All diese schrecklichen Kriegserfahrungen machten viele deutsche Soldaten. Warum Kretschmann schließlich desertierte, erklärte das noch nicht. Bei ihm spielt neben biografischen Gründen auch seine diffus kommunistische Grundhaltung eine wichtige Rolle. Er erkannte schon früh die Diskrepanz zwischen den Kriegsschilderungen in Literatur, Propaganda oder den Predigten der Geistlichen und der brutalen Realität im Schützengraben an der Front. So steigerte sich sein Hass gegen den Krieg und diejenigen, die ihn verursacht und immer weiter vorangetrieben hatten, schließlich bis hin zur lang überlegten und mutigen Entscheidung zur Desertion.

So weit, so gut: Allerdings ist die Aufteilung des Buchs unglücklich gewählt. Denn die Autobiografie Kretschmanns steht erst im hinteren Teil des Bandes statt am Anfang. Ohne deren einordnende Informationen ist das Verständnis der vorangestellten Tagebuchaufzeichnungen und Briefe jedoch sehr erschwert. Außerdem merkt man dem ersten Teil an, dass er auf einem Vortrag basiert. Er wirkt sprunghaft, ungegliedert, und auch die holprige Sprache stört. Dies ist doppelt ärgerlich angesichts der klaren und präzisen Sprache des zweiten Teils, bei dem leider nicht vermerkt ist, ob es sich nur um eine Auswahl oder um eine vollständige Wiedergabe der Aufzeichnungen handelt.

Diese Einschränkungen schmälern den Wert dieses Buches aber nur in geringem Maße, denn meines Wissens existieren auf dem fast unübersehbaren Markt der Weltkrieg-Memoiren kaum Bücher von einfachen Soldaten, die den Ostfeldzug aus nächster Nähe über einen so langen Zeitraum dokumentiert haben. Kretschmanns Erinnerungen bieten ein authentisches, realistisches Bild des grauenhaften Kriegsalltags, ohne pathetisch oder glorifizierend zu sein. Stattdessen zeigt dieser untypische Soldat, wie man trotz der gänzlich konträren und feindseligen Umgebung seine humanistischen und pazifistischen Überzeugungen bewahren konnte. Daher ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen. Leider können interessierte LeserInnen es selten über den Buchhandel beziehen – sie sollten sich gleich an das Antikriegsmuseum in Berlin wenden. RALF NEUMANN

Kurt Kretschmann: „Und da leben Sie noch? Erinnerungen“. Schriften der Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Berlin 2001, 154 Seiten, 15 DM (7,50 €)Am besten per Telefon zu bestellen: (0 30) 5 08 12 07 oder (0 30) 5 09 96 91