: Wir sind hier nicht in Monte Carlo
Man kennt sich, grüßt sich verhalten und redet leise. Nur Gewinn und Verlust werden schweigend quittiert. Und Jetons gibt es zu fünf Mark. Die Spielbank am Alexanderplatz ist das Casino der kleinen Leute. Schon ab Mittag rollt die Kugel im Roulette. Herzlich willkommen im 37. Stock des Forumhotels
von JAN ROSENKRANZ
„Ab drei rollt die Kugel“ sagt die Dame am Empfang. „Genau“ , bestätigt der Garderobier, „um drei ist die Kuh auf dem Eis.“ Die Dame verlangt den Personalausweis und zehn Mark und rückt dafür zwei Glücksjetons und ein gefrorenes Lächeln heraus – für Glück und Segen und Mach-dich-vom-Acker. Blaues Licht läuft die Wände hinab und fließt auf die wildgemusterte Auslegeware. Unendliche Weiten, kalt und öd. Herzlich willkommen im Casino Berlin, 37. Stock, Forumhotel Alexanderplatz.
An Tisch 2 des französischen Roulette, dem einzig geöffneten an diesem Nachmittag, haben vier Croupiers Stellung bezogen. Der erste Gast ist noch allein. Er sitzt zusammengesunken an der Seitenlinie des Spieltisches und schwitzt. Sein Kopf mit dem grauem Haarkranz droht zwischen den mächtigen Schultern zu verschwinden, die wurstigen Finger türmen Jetons. „Na, dann woll‘n wir mal“, sagt der Tischchef und streicht sich den Smoking glatt. Er thront auf einem erhöhten Sessel hinter dem Spieltisch und nickt dem Drehcroupier auffordernd zu. Surrend rollt die Kugel durch den präzisionsgefrästen Holzkessel, strauchelt an den eingelassenen Rauten – klick, klick – und landet – klack – auf der „Vier, Noir, Pair, Manque“. Jetzt, um kurz nach drei Uhr findet der Croupier noch die Zeit, bedauernd ein „Tut mir leid“ zu raunen, wenn er mit dem Rateau die verlorenen Jetons á 5 Mark vom Filz räumt.
Im Minutentakt schießt der Fahrstuhl auf 124 Meter Höhe und spuckt Gäste aus: Die runzelige Dame, schwarzgekleidet und mit forschem Schritt, den Krückstockopa edler Provinience, der trocken raucht, und den Mann vom SED-Politbüro: grauer Anzug, vermutlich „Präsent 21“, eine luftig gefönte Stalinfrisur und graubraune Halbschuhe mit Klettverschluss, die beim Gehen knistern. Er hastet zuerst an die Kasse, Geld in Jetons tauschen, dann ran an den Tisch. „Häuflein, Häuflein mehre dich, werde kroß und fürschterlisch“, sächselt er einem Mitspieler ins Ohr. Der lächelt gequält. Man kennt sich, grüßt sich, redet leise. Nur Gewinn und Verlust werden schweigend quittiert.
Roulette ist die faire Fee unter den Glücksspielen. Statistisch gesehen werden 97,3 Prozent der Einsätze wieder ausgezahlt. Doch ungerecht verteilt: Jeder Gast verliert hier im Schnitt pro Abend 130 Mark. Allein das Roulette bringt der Spielbank jährlich 13 Millionen Mark brutto. 81 Prozent davon gehen als Glücksspielsteuer ans Finanzamt.
Durch die riesigen Fenster ließe sich die Aussicht genießen, doch der Herbstdunst gestattet keine Fernsicht. Auf dem Dach des Berolina-Hauses staken die bunten Mikadostäbchen der Berliner Bankgesellschaft in den grauen Nachmittagshimmel – dräuendes Mahnmal der Pleite. Schnell ist eine Hypothek verspielt, noch schneller schrumpft ein Jetonturm zusammen. Die beiden Herren in den besten Jahren am Stehtisch klimpern mit Jetons in ihren Taschen. Wildes Drauflosspielen ist ihre Sache nicht. Sie spielen mit System. Weil sie den Zufall nicht akzeptieren. Weil Napoleon schon ahnte: „Le calcul vaincra le jeu“ – eines Tages wird die Berechnung das Spiel besiegen. Weil Männer es so sehr lieben, Expertengesprächen zu führen.
Die zwei Profis wittern den göttlicher Plan, der nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Sie notieren jede Zahl, tüfteln an Schablonen, erstellen dutzende Prognosen. „Siehste, det is dieset Ampelprinzip: rot, schwarz, rot“, ereifert sich der Herr mit dem knittrigen Leinenjackett. An der Anzeigetafel über dem Spieltisch leuchten die schwarze 11, die rote 34 und die schwarze 17. „Ick sach doch, niedrig, hoch, niedrig und ungerade, gerade, ungerade“, doziert der Herr mit dem beuligen Karojackett. Logisch, dass jetzt eine ebenso gerade wie rote und vor allem hohe Zahl folgen muss. Die gewieften Analysten stürzen an den Tisch und setzen haufenweise Jetons auf die 30, 32, 34 und 36 – rot, gerade und hoch. Sichere Sache. Der Croupier schnippt die Kugel in den Kessel.
Surrr, klick, klick, klack – die Kugel bleibt auf der 2 liegen. Gerade und rot, aber verdammt niedrig. Das Karojackett wettert: „Mensch, jetzt hat der Kerl wieder alle überlistet.“ Gott? Nein der Croupier, der die Kugel stets mit besonderer Tücke in den Kessel wirft, wenn andere den Plan ganz klar erkannt haben. Glauben die Analysten. Das knittrige Leinenjackett nickt anerkennend. Albert Einstein gelangte nach genauem Studium der Chancen zur Erkenntnis: „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, beim Roulette zu gewinnen: Entweder Spielsysteme verkaufen oder Jetons klauen.“ Die hutzelige Oma hat eine weitere Möglichkeit entdeckt. „Madame!“ ermahnt sie der Croupier, „ihr Jeton hat hier gelegen.“ Madame protestiert und schiebt den Chip wieder auf die 27. Die hat gewonnen. „Nein, Madame, er lag hier“, zischt der Croupier und schiebt den Jeton zurück auf die 30. Der Tischchef, der die Einsätze der Spieler überwacht, schüttelt den Kopf. Madame auch. „Wir können ja ins Video schauen“, schlägt der Croupier vor. In der ufoartigen Lampe über dem Spieltisch ist eine kleine Kamera eingelassen, die alle Bewegungen aufzeichnet und dem Saalchef dabei hilft, Streitfälle zu klären. Doch dieses Mal muss der Saalchef nicht kommen. Madame gibt Ruhe.
Zwischen den Hochhäusern des Potsdamer Platzes verreckt die Sonne blass im Smog. Wenn am Roulettetisch die Hoffnung stirbt, lässt sich das Pech vielleicht in Alkohol ertränken – mit „Lady Killer“ zum Beispiel, dem Cocktail des Monats für 9 Mark. Lars Stenzel lehnt an der Bar und nippt am Kirschsaft – rundes Gesicht, gesund und zufrieden, ein prächtiger Junge. „Nach der Schule habe ich als Fliesenleger angefangen – mit 23 waren die Knie kaputt“, erzählt er. Dann hat er diese Annonce in der Zeitung entdeckt, hat acht Wochen lang Abendkurse besucht in Theorie und Fingerfertigkeit, war Kopfcroupier, der gar nichts durfte, wurde immer besser mit den Jahren, dann Tischchef, hat sich hochgeackert bis zum Saalchef – die oberste Instanz im Casino. Seit elf Jahren ist er schon dabei. Jetzt wacht er über Spiel und Spieler, schlichtet diskret Streitigkeiten, beruhigt aufgebrachte Gäste und hat immer und für alle Fälle das letzte Wort.
“Wir haben kein Interesse daran, dass der Gast verliert. Wir verdienen ja nur, wenn er gewinnt“, erklärt Stenzel. Im Casino gilt ein ungeschriebenes Gesetz: Jeder Spieler gibt bei größeren Gewinnen ein Trinkgeld in Höhe des Einsatzes. „Danke. Für die Angestellten“, sagt der Croupier dann und lässt den Jeton in einen Schlitz fallen. Die Summe wird am Monatsende nach einem bestimmten Punktesystem unter 120 Croupiers aufgeteilt – die besten bekommen das meiste. Wie immer.
im 24. Stock liegen die Pausenräume – mit Fernseher und Getränkeautomaten. Die niedrigen Decken drücken, auf dem Gang stapeln sich leere Geldkoffer. Rechts geht’s zum Betriebsrat, nach links zum Direktor. Die hellen Büromöbel aus Buchenfurnier füllen das Zimmer, der Flachbildschirm spart Platz. Kay-Uwe Roses Büro ist klein. Kleiner als ein klassisches Direktorenbüro. Zu klein für einen, der sich hochgearbeitet hat, seit er 1976 in Travemünde zum ersten Mal die Kugel in den Kessel warf. Direktor Rose ist 46 Jahre alt, trägt das graublonde Haar einigermaßen gescheitelt, zum wasserblauen Hemd eine himmelblaue Krawatte, auf der Nase eine edle Lesebrille – als wäre er einem Werbespot der Deutschen Bank entstiegen. Rose könnte problemlos dem Kunden kumpelhaft auf die Schulter klopfen und die steigende Kurve seines famosen Rentenfonds präsentieren, und beide würden lächeln wie beseelt.
Die Einnahmekurve seines Casinos klettert nicht so steil, genau genommen fällt sie. Alle zur WestLB gehörenden Casinos leiden seit dem 11. September unter Einnahmeverlusten. Auch der Börsensinkflug schmälert das Geschäft. „Wer spielaffin ist, hat auch am Neuen Markt gezockt“, erklärt Rose. Für Konkurrenz ist also sowieso gesorgt. Doch ab Anfang nächsten Jahres rollt die Kugel auch in Potsdam – eine Lottogesellschaft eröffnet das erste Casino Brandenburgs. Direktor Rose sagt gelassen: „Wir bieten hervorragenden Service. Das müssen die erst mal nachmachen.“
Ein Casino ist heute eine normale Freizeiteinrichtung – mit Stammpublikum: Mehr Trabrennbahn und Grüne Woche als Geldaldel und Schickeria. „Wir sind hier nicht in Monte Carlo“, sagt der Direktor. Ein kleiner Teil der Gäste wohnt im Hotel und fährt abends ins Casino statt ins Theater. 80 Prozent der Gäste aber wohnen in Berlin und Umgebung – viele kommen einmal pro Woche, manche Rentner täglich. „Aber“, sagt Rose und schnellt triumphierend aus dem Sessel, „wenn Sie drei Mal die Woche abends ausgehen und etwas trinken, sind Sie ja auch nicht gleich ein Alkoholiker.“ Nur schmerzt ein verkaterter Kopf nicht so sehr wie hundert flugs verspielte Mark. Wer öfter spielt, verliert auf lange Sicht bestimmt. Bis es heißt: „Rien ne va plus.“ Gewinnen ist leicht, nur Aufhören ist schwer, sagen die Spieler.
“Ihre Einsätze, bitte“, sagt der Croupier in der 37. Etage. Völlig überflüssig. Denn noch bevor die letzten Gewinne ausgezahlt sind, legen die Gäste neue Jetons auf die Felder. Die runzelige Madame beißt sich auf die Unterlippe und wirft rote 5-Mark-Jetons wie Streubomben auf den grünen Filz. Nebenbei schiebt sie das Türmchen gewonner Jetons in die geöffnete Handtasche. Im Gesicht des Krückstocks macht sich nervöses Zucken breit. Die Stalinlocke watschelt knisternd auf und ab wie ein Zootiger, wirft en passant rasch einen Jeton auf Rot, dreht sich weg und wandelt weiter. Rasant surrt die Kugel durch den Kessel, wird langsamer, stolpert an den Rauten - klick, klick – und landet – klack –auf der „Acht, Noir, Pair, Manque“. Zum vierten Mal an diesem Nachmittag.
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