: Gelebter Comic: Destination Disney
Eine Reise durch das immer weiter expandierende Mäuse- und Medienimperium, das als Touristenziel jährlich allein in Kalifornien mehr Besucher als Griechenland anzieht. Der Gründer Walt Disney wäre am 5. Dezember 100 Jahre alt geworden
von TILL BARTELS
Ein Toter lud zur Pressekonferenz nach Florida. Die Show war perfekt organisiert, schließlich ging es um die Zukunft der Metropolen. „Ich glaube nicht, dass es irgendwo auf der Welt eine für die Menschheit wichtigere Herausforderung gibt, als Lösungen für die Probleme unserer Städte zu finden.“ Aber die Person, die so gewichtige Worte an die Journalisten richtete, saß gar nicht live auf dem Podium. Walt Elias Disney war sechs Wochen zuvor gestorben und verkündete sein Utopia von der Leinwand. Kurz vor seinem Tod am 15. Dezember 1966 hatte er die Idee seiner Modellstadt als filmisches Vermächtnis aufzeichnen lassen. Damals gab es noch keinen Disneypark bei Orlando, nur ein grober Plan war von den Brüdern Walt und Roy Disney der Öffentlichkeit präsentiert worden.
Jetzt gab es einen doppelten Anlass zum Feiern: 30 Jahre Walt Disney World in Florida und den 100. Geburtstag von Walt Disney am 5. Dezember. Orlando ist inzwischen eines der weltweit wichtigsten touristischen Ziele geworden. Im Jahr 2000 reisten 43,3 Millionen Menschen an und gaben 21 Milliarden Dollar (23,6 Mrd. Euro, 46,16 Mrd. Mark) aus. Sie amüsieren sich in einem der 90 verschiedenen Themenparks, füllen 102.412 Hotelbetten und futtern sich durch 3.800 Restaurants. Wichtigstes Ziel der Suchenden ist der größte aller Parks, die Destination Disney.
Die Feiern unter dem Motto „100 years of magic“ erstrecken sich über ein ganzes Jahr. Bis zum Dezember 2002 werden im World Disney World Resort neue Attraktionen, Paraden und Disney-Devotionalien zu sehen sein. Darunter ist auch die Schulbank aus der dritten Klasse mit den Initialen des kleinen Walt. Symbol des Jubeljahres: ein 40 Meter hoher blauer Zauberhut, wie ihn Mickymaus im Film „Fantasia“ getragen hat. Doch die große Auftaktveranstaltung am 1. Oktober wurde abgesagt. Keine Party, keine Pressekonferenz, denn im laufenden Quartal gingen die Besucherzahlen um ein Viertel zurück. Den Mitarbeitern, die keine Mickymaus-Masken tragen müssen, sieht man die Bestürzung an: Das Walt Disney World Resort wurde am Vormittag des 11. September innerhalb einer Stunde vorübergehend evakuiert. Zu groß war die Furcht vor einer Attacke durch Terroristen.
Angst vor Katastrophen hatte bereits ein prominenter Gast vor knapp 50 Jahren. Salvador Dalí besuchte das Anwesen der Familie Disney in Los Angeles und musste auch auf dem Lieblingsspielzeug des Hausherrn Platz nehmen: einer Eisenbahn im Maßstab 1:8, die Trickfilmzeichner Ward Kimball für den Dampflokfanatiker entworfen hatte. Der ein Kilometer lange Rundkurs durch den Garten führte auch durch einen dunklen Bergtunnel mit Biegung. Das war selbst dem Surrealisten zu viel. Die perfekte Nachahmung der Welt würde auch die Siumulation von Unfällen provozieren. Was Dalí nicht wissen konnte: Er war einer der ersten Besucher einer neuen Generation von Fahrattraktionen. Noch war die Schmalspurbahn, ein Ergebnis der Miniaturisierungssucht und Detailversessenheit Disneys, ein privates Vergnügen.
Technikfetischismus und die Lust, neue Errungenschaften miteinander zu kombinieren, gehörten zu den weiteren Wesenszügen der Legende. Die Maus in bewegten Bildern – die Idee dazu soll er angeblich auf einer langen Bahnfahrt von New York an die Westküste gehabt haben – war zunächst ein Flop. Erst der dritte Film, „Steamboat Willie“, brachte 1928 den Durchbruch, weil Disney als erster Töne, Dialoge und Zeichentrick filmisch inszenierte. Ebenso innovativ verfuhr er beim Aufkommen des Farbfilms, mischte in „Fantasia“ Farben und Musik in Stereotechnik. Schon früh gab er zu, seit 1926 keine einzige Zeichnung für seine Trickfilme mehr gemacht zu haben. Er ließ begabte Leute für sich arbeiten, verstand sich als Antreiber und Animator einer Heerschar von Zeichnern. Er überwachte die Projekte bis zuletzt und vermarktete sie in seinem Namen.
Auf dem Rücken der Maus entstand ein ganzes Imperium. Neben Micky schuf er eine zweite perfekte Figur: sich selbst. Walt stilisierte sich zum amerikanischen Selfmademan aus dem Mittleren Westen, der mit 40 Dollar in der Tasche in Hollywood Karriere machte. 1937 wurde „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, der erste Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge, ein Riesenerfolg. Viele Auftragsproduktionen der Regierung sorgten zwischen 1942 bis 1945 für stetigen Umsatz. Die Mickymaus mutierte zum nationalen Symbol, ihr Name diente den Alliierten Truppen als Codewort zur Landung in der Normandie.
Anfang der Fünfzigerjahre wurde Bruder Roy der Studioboss, damit Walt Disney alle Energie in die Konzeption seines Königreichs steckten konnte. Während klassische Vergnügungsparks wie Coney Island in New York aus der Mode kamen, setzte er auf ein anderes Konzept: den Themenpark im kalifornischen Anaheim südöstlich von Los Angeles. In Disneyland sollten die gezeichneten Filmfiguren greifbar und sollte die imaginäre Welt erlebbar werden. Der Entwurf glich dem Storyboard eines Zeichentrickfilms, nur dass sich ein künstlicher Park beliebig häufig verändern und stets dem Zeitgeist anpassen lässt. Gleichzeitig setzte Walt auf das boomende Medium Fernsehen. Mit ABC schloss er einen genialen Vertrag. Der Sender beteiligte sich an der neuen Firma WED Enterprises zum Bau des Parks, und im Gegenzug produzierte Disney Kindersendungen am laufenden Band. Von 1954 bis zu seinem Tod moderierte er regelmäßig eine Fernsehshow, die wie die Themen seines Parks, Adventureland, Frontierland, Fantasyland und Tomorrowland, strukturiert war. Über zwei Jahrzehnte kam er wöchentlich in jedes amerikanischen Wohnzimmer und inthronisierte sich als Märchenonkel der Nation.
Auf den ersten Skizzen des Parks von 1953 lassen sich heute fast alle Attraktionen von Anaheim wiederfinden. In der Mitte das Dornröschenschloss, umgeben von den einzelnen Themen mit ihren Attraktionen und der Main Street USA, der idealisierten Miniatur der Hauptstraße von Marceline, dem Ort seiner Kindheit in Missouri. Ohne Spielzeug und Taschengeld soll Disney aufgewachsen sein. Schon während der Bauarbeiten des Parks bezog er in einem der verspielten Häuser eine Wohnung und konnte aus dem ersten Stock auf die Straße blicken. Seine Flucht in eine heile Welt war zum real existierenden Märchenreich geworden. Seit der Eröffnung 1955 bis heute rattert um das Areal eine alte Eisenbahn.
„The happiest place on earth“ nannte er Disneyland. Über 400 Millionen Menschen haben inzwischen den Park besucht und seine Sicht der Welt verinnerlicht. In einem Jahr zieht Disneyland in Kalifornien mehr Touristen als ganz Griechenland an. Doch das magische Königreich reichte Disney nicht. Er wollte mehr, brauchte Land für eine vollwertige Destination, ein eigenes Territorium für Langzeiturlauber. Dazu musste ein Standort in der Nähe einer verkehrsgünstig gelegenen Stadt mit ganzjährig mildem Klima und preiswerten Grundstückspreisen gefunden werden. Scheinfirmen wie die Reedy Creek Ranch Corporation und Bay Lake Properties kauften 1963 für das Geheimprojekt bei Orlando massenhaft Grund und Boden. Seit 1956 war hier die Rüstungsindustrie mit Martin Marietta, heute Lockheed Martin, präsent, jetzt sollte die Vergnügungsindustrie Einzug halten. Und mit der Bekanntgabe der Millioneninvestition begann die neue Zeitrechnung für Orlando: vor und nach Disney.
Roy Disney, der stets in Walts Schatten agierte, eröffnete 1971 den ersten Themenpark und nannte die Dependance an der Ostküste nicht einfach Disneyworld, sondern Walt Disney World. Nur zwei Monate nach dieser Hommage verstarb auch er. Das in der Mitte Floridas gelegene Reich ist so riesig, dass jedes Jahr im Januar auf dem Gelände ein Marathonlauf veranstaltet wird. Nur auf einem Teil des Vergnügungsstaats mit der doppelten Fläche Manhattans wurden vier Themenparks gebaut: der Klassiker Magic Kingdom (1971) mit dem Dornröschenschloss aus Fiberglas, die Zukunftswerkstatt Epcot (1982), die Disney-MGM Studios (1989) mit der ganzen Welt des Kinos und Disney’s Animal Kingdom (1998), ein ungewöhnlicher Zoo mit simulierter Savannenlandschaft und drei Wasserparks sowie 26 Unterkünfte aller Kategorien, vom Parkplatz für den Campingbus ab 34 Dollar bis zum Deluxe Resort ab 189 Dollar pro Nacht. Das Visum für die Reise durch den 51. Bundesstaat der USA kostet 50 Dollar und 88 Cent. Doch mit der Aufenthaltserlaubnis für einen Tag sieht man nur einen Bruchteil. Die Besucher sollen nach dem Willen der Betriebswirte gleich mehrere Tage bleiben. Dabei erweisen sich die Hotels als Mausefallen, die Restaurants und Läden als profitable Einnahmequellen – Fun und Shopping, bis die Kreditkarten gesperrt werden. Nach Angaben von TUI Deutschland weilen Disney-Kunden, meist Paare und Familien mit zwei Kindern, im Durchschnitt eine Woche in Walts Welt. Reklamierungen gibt es kaum, alle fühlen sich geborgen und sicher aufgehoben – Fakt gewordene Fiktionen übernehmen den Unterhaltungspart der Eltern.
Unter der Oberfläche ist das Ferienparadies jedoch löchrig wie ein Schweizer Käse. Die logistischen Tunnel und Gewölbe sind für Besucher und Journalisten tabu. Keine Fotos von der Unterwelt, von Küchen, Vorratskammern und Umkleidekabinen, in denen die „cast members“, wie die Angestellten genannt werden, sich umziehen und aus Highschoolstudenten Fleisch gewordene Comicfiguren im Schichtdienst werden. Unterirdisch gilt es zudem, täglich 70 Tonnen Müll zu entsorgen.
Der Name Disney steht auch als Synonym für einen Markenartikel und Großkonzern. Seit 1991 ist The Walt Disney Company im Dow Jones Industrial Index als einer der 30 wichtigsten Konzerne der USA aufgeführt. Mit Disney-Filmstudios, Touchstones Pictures, der Buena Vista Music Group, den Radio-, ABC-Fernsehstationen und Kabelkanälen wie dem Sportsender ESPN und Disney Chanel, der TV-Show „Who Wants to Be a Millionaire?“, den 742 Disney-Läden sowie Kinderbuchverlagen und Musicalproduktionen wuchs das Mäuse-Imperium zum weltweit drittgrößten Medienmulti. Walts Nachfolger haben die Disney-Parks längst exportiert: 1983 nach Tokio, 1992 nach Paris, die Eröffnung in Hongkong ist für 2005 anvisiert. Bereits 1993 wurde der 1.000.000.000. Parkbesucher begrüßt. Und von Port Canaveral an der Ostküste Floridas stechen seit drei Jahren zwei schwimmende Disney Resorts in See. Die Kreuzfahrtschiffe mit Kurs auf die Karibik werden gern in Kombination mit Walt Disney World gebucht. Unterwegs steuern die Luxusliner Castaway Cay auf den Bahamas an. Auch diese Privatinsel gehört zum firmeneigenen Imperium.
Sieben Milliarden Dollar Umsatz erwirtschaftet das „Walt Disney Parks and Resorts“ genannte Touristikunternehmen und trägt damit ein knappes Drittel zum Jahresumsatz des Medienkonzerns bei. Unter dem Vorstandsvorsitzenden Michael D. Eisner wurde das Vermarktungssystem verfeinert und das Netz von Kooperationen dicht geflochten. Der „König der Löwen“ – ob als Zeichentrickfilm, Filmmusik, Verkaufsvideo oder Musicalinszenierung – erweist sich als Krönung des Cross-Marketings.
Was ist aus Disneys urbanem Utopia in Florida geworden? Kurz vor seinem Tod träumte Walt von der Experimental Prototype Community of Tomorrow (Epcot), einer sauberen Siedlung mit ausgewählten Bürgen, öffentlichen Verkehrsmitteln und einem Themenpark, der die Zukunft vorwegnehmen und Internationalität verbreiten sollte. „Wie hätte es Walt gemacht?“, lautet bis heute die Gretchenfrage bei wichtigen Entscheidungen. Seine Erben haben allerdings, im Gegensatz zu Walt, Wohn- und Arbeitswelt getrennt. Epcot wurde zum eigenständigen Themenpark, die Bilderbuchstadt zu einem lukrativen Immobilienprojekt: Südlich von Walt Disney World liegt „Celebration“, ein Ort mit halbmondförmigen Straßen und weißen Häuschen in kleinstädtischer Harmonie. Nur bewegen sich die Häuserpreise 25 Prozent über dem ortsüblichen Niveau. Kein normaler Parkbediensteter kann es sich bei einem Stundenlohn von 6,50 Dollar erlauben, in der Disney-Stadt Quartier zu beziehen.
Auf dem einstigen Parkplatz von Disneyland bei Los Angeles wurde in diesem Frühjahr ein weiterer Park in Betrieb genommen. Disney’s California Adventure gibt keine fantastische Illusion wieder, sondern bereitet eine reale Region mit den neuesten Mitteln der Unterhaltungsindustrie auf. Ständig arbeiten „Imagineers“, das Team von Entwicklern und Ingenieuren, an neuen Attraktionen. Sie kümmern sich nicht um den binnen Jahresfrist halbierten Kurs der Disney-Aktie, sie forschen und heben vom Boden der Tatsachen ab. Bis 2003 wollen sie einen alten Traum Walt Disneys realisieren. Mit „Mission: Space“ als Teil der Future World in Epcot soll ein Astronautenflug simuliert werden, von der ungeheuren Beschleunigung beim Start bis zum Schweben in der Schwerelosigkeit. 48 Jahre nach dem Film „Man and the Moon“ beginnt in Florida der Weltraumtourismus. Dann wird das Mäuseimperium bis ins Weltall expandieren.
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