: Hippieträume von einst
Das Tempodrom hat sich endgültig von seinem Nomadenstatus verabschiedet. Erinnerungen an schlechtes Bier und gute Partys bei jedem Wetter in den Zelten im Tiergarten
von ANDREAS BECKER
Schön war die Zeit zwischen den Zelten, und auch ein echtes Stück Westberlin. Bei Sturm und Regen, aber auch bei knalliger Sonne hielten die Tempodromies die Stellung im Tiergarten. Großstadtnomaden, das waren sie in unseren Augen.
Als ich irgendwann hörte, Irene Moessinger habe auch eine ganz normale Wohnung, so mit Heizung und festen Wänden, war ich richtig überrascht – und sogar ein wenig enttäuscht. Denn die Krankenschwester mit der direkten Art verwirklichte ja auch unsere Träume, stellvertretend. Hätten wir nicht alle gern unsere Eltern beerbt, am liebsten im Millionenbereich, und der deutschen Nachkriegsgeneration mal schön gezeigt, wie man, äußerst alternativ, mit Geld umgeht? Moessinger durfte unsere Hippieträume ausagieren. Da die für die meisten längst ausgeträumt sind, ist die Entnomadisierung nur konsequent.
Viele Jahre lang hieß Frühling in Westberlin, durch den Tiergarten radeln und schauen, ob zwischen den auch den Winter über stehenden vier Masten schon das grüne Zeltdach wieder aufgezogen wurde. Neben der Kasse im gelb-grünen Holzzaun hingen dann meist schon die Plakate für die kommende Konzertsaison. Ob Bob Dylan oder die obligate Nina Hagen, ins Tempodrom gingen viele nicht nur wegen der Band, sondern vor allem auch wegen der Atmosphäre. Johnny Cash oder Paul Weller im Tempodrom, das war irgendwie anders als in einem geschlossenen Raum.
Legendär wurden die Auftritte von Aktionstheatern im Zelt. La Fura Dels Baus aus Spanien schienen wie geschaffen für diese Stadt. Sie jagten mit ihrem „Terrortheater“ (Petra Kohse in einer taz von 1993) die Zuschauer durchs Rund. Lustig waren vor allem die Regenkonzerte im großen Zelt, bei denen das Wasser von den Zeltwänden nicht einfach in die Gullys floss, sondern zunächst einmal mitten durchs Zelt.
Highlight der Saison waren für viele die Heimatklänge. Gestartet 1988 als Anhängsel der Veranstaltungen zur Europahauptstadt hatten die Heimatklangforscher um den Ethnologen Borkowsky Akbar zunächst eine kleine Bühne direkt neben dem Eingang, gegenüber der grünen Sektflasche aus Pappe. Schon im ersten Jahr waren die Heimatklänge ein „Riesenerfolg“. „Umsonst und draußen“, auch das wieder ein echtes Hippiemotto.
Regelmäßig fanden sich irgendwelche Anwohner, die sich durch Lärm belästigt fühlten. Wo die genau wohnten oder ob es sich um ein Hausmeisterehepaar der zugewucherten Schweizer Botschaft handelte, haben wir nie erfahren. Gegen den hässlichen Glockenturm, den Daimler-Benz irgendwann als Geschenk an Berlin vor das Tempodrom klotzte, hat keiner protestiert. Solange wir bei Kindl, das wir sonst nie getrunken hätten, und angekokelten Frühlingsrollen die Weltlage diskutierten, war alles im Lot.
Wegen der Lärmbeschwerden mussten die Heimatklänge aufwendig in ein schallisoliertes Bühnenungetüm hinterm kleinen Zelt wechseln, das wir Kurmuschel nannten. Das Teil war so rundlich konstruiert, dass es bei Bedarf in das kleine Zelt integriert werden konnte.
Ganz toll war es bei den Heimatklängen immer auch Backstage. Man traf die Musiker, die Macher, die netten Kollegen von Radio Multikulti – die in den Containern im Haus der Kulturen zu wohnen schienen – und hatte Zugang zum Bierkühlschrank. Nur in den Garderobenzirkuswagen der Musiker durfte man nicht. Geschichtenerzähler Borkowsky versorgte zum Trost alle mit den neusten Storys über die Bands.
Den Beschluss, das Kanzleramt direkt neben das Tempodrom zu setzen, nahmen wir zunächst gar nicht ernst, bis dann plötzlich in einem Sommer ein großer Baukran hinter der Kurmuschel seine Runden drehte. Die Versteigerung des großen Zeltes und vieler der Zirkuswagen im Herbst 1998 waren dann ziemlich traurig. Der Umzug der Reste zum Ostbahnhof war eine Zäsur, das Tempodrom plötzlich Untermieter eines alten Posthofes. Immerhin erschloss sich das Unternehmen hier noch einmal eine neue, jüngere Klientel. Hoffen wir, dass die Karawane der Tempodrom-Fans am symbolträchtigen Anhalter Bahnhof nicht ihre letzte Ruhestätte findet.
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