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Lesen lernen vor der Glotze

Im internationalen Vergleich landeten die finnischen Schüler auf Platz eins. Die deutschen nur unter ferner liefen. Ein Schulbesuch in Neukölln zeigt: Die Probleme sind ähnlich, das Schulsystem anders

von KAJA GRÜNTHAL

Die Finnen sind top, die Deutschen ein Flop. Zumindest auf die Lernerfolge von 15-Jährigen der beiden Länder trifft das zu. Das geht aus dem vor kurzem veröffentlichten internationalen Schulvergleich Pisa (Programme for International Student Assessment) hervor. Doch was unterscheidet deutsche und finnische Schulen so sehr, dass die hiesigen Teenager im internationalen Vergleich nicht einmal Mittelmaß sind?

Ich komme aus Finnland und besuche zur Zeit Berlin. In meiner Heimatstadt Hyvinkää nahe bei Helsinki, ging ich 12 Jahre zur Schule. In Berlin habe ich nun zum ersten Mal eine deutsche Schule angeschaut.

Die Alfred-Nobel-Oberschule in Neukölln sieht aus wie eine gewöhnliche finnische Schule. Die Realschule liegt in einem Park. Drinnen hängen Kunstwerke der Schüler und Ehrenurkunden von Sportwettkämpfen.

„Guten Morgen!“ Herr Knauf beginnt die Deutschstunde der Klasse 10 B. 29 Schüler sitzen in den Bankreihen. Die meisten von ihnen sind 15 Jahre alt, genau so alt wie die Teenager, die an der Pisa-Studie teilgenommen haben. Warum haben deutsche Schüler so schlecht abgeschnitten? Viele melden sich, erst die Mädchen, dann auch Jungen.

„In Deutschland muss man sich nicht kümmern. Man bekommt Geld, obwohl man arbeitslos wird. Ist das in Finnland auch so?“, fragt eine. Ja, ähnlich.

„In Büchern ist die Sprache ganz anders als die, die man auf der Straßen spricht. Der Satzbau und sogar die Wörter sind anders. Deutsche Grammatik ist sehr kompliziert. Wie ist die finnische Grammatik?“ Auch kompliziert.

Die Jugendlichen reden durcheinander: In der Schule liest man keine interessanten Bücher. Die Klassen sind zu groß. Lehrer und Eltern sind nicht streng genug. Und die Schüler selbst sind faul. Ihnen gefallen Fernsehen und Computerspiele mehr als Bücher.

Das ist in Finnland nicht anders. Doch kein Finne kann ausländische Filme gucken, ohne lesen zu können. Die Schauspieler sprechen in ihrer Sprache, Finnisch sind nur die Untertitel. Noch beliebter als das Fernsehen sind Computer und neue Medien. In keinem Land gibt es so viele Internetanschlüsse oder Handys pro Einwohner wie in Finnland. Alle Kinder bekommen in der Schule eine E-Mail-Adresse. Abends sitzen sie zu Hause vor den Computern. Und die Eltern sind auch nicht besser. In Finnland lassen sich rund die Hälfte aller Ehepaare scheiden, in Deutschland nur ein Drittel.

Erst Lehrer Knauf beweist mit einigen Fragen an seine Klasse, dass ich nicht in einer finnischen Schulklasse gelandet bin. „Wie viele von euch sind seit dem siebten Schuljahr gemeinsam in einer Klasse geblieben?“ Zehn von 29 melden sich. „Wer hat eine Klasse wiederholt?“ Neun. „Wer kommt von einem Gymnasium?“ Vier strecken die Arme.

In Finnland sind die ersten neun Schuljahre für alle gleich. Diese Ewigkeit nennen wir „Grundschule“. Mit sieben Jahren wird man eingeschult. Die ersten zwei Jahre gibt es einen Lehrer, vor dem alle Achtung haben. Doch niemand siezt ihn. In Finnland wird überhaupt fast niemand gesiezt. Die nächsten vier Jahre bleiben die Kinder im selben Schulgebäude, aber mit einem neuen Lehrer, vor dem alle nicht mehr so viel Achtung haben. Nur die erste Fremdsprache, meistens Englisch, und Handwerk werden von zwei Fachlehrern unterrichtet. Die drei letzten Grundschuljahre lernt man dann in einem neuen Gebäude und bei vielen Speziallehrern. Fast niemand hat mehr Respekt vor den Lehrern. Schwedisch als zweite und eine dritte freiwillige Fremdsprache kommen hinzu.

Am Ende der Grundschule sind alle 15 bis 16 Jahre alt. Fast niemand ist sitzen geblieben. Eine Hälfte geht für drei Jahre aufs Gymnasium, die andere Hälfte besucht Berufs- und Fachschulen, manche gehen auch arbeiten. Einige besuchen aber noch die 10. Klasse, um einen höheren Abschluss zu bekommen. Diesen Zweig nennen wir etwas spöttisch „Abfallklasse“.

Das finnische Schulsystem wurde in den 70er-Jahren reformiert. Damals wurde das Gleichheitsprinzip aus Schweden übernommen. Der obersten Schulbehörde wurde aber vorgeworfen, sie wolle das DDR-System nach Finnland importieren. Alle Schüler werden nun neun Jahre lang gemeinsam unterrichtet, unabhängig von ihrer Begabung. Anfang der 90er-Jahre folgte eine zweite Reform. Das Gleichheitsprinzip blieb, neu war die Dezentralisierung. Schulen und Schüler können etwas mehr wählen.

Auf dem Pult des Lehrers der 10 B der Alfred-Nobel-Oberschule liegt die Süddeutsche Zeitung. „Ich nehme keine Namen auf“, verspricht Lehrer Knauf: „Wenn ihr jetzt ganz ehrlich seid, wie viele von euch haben Schwierigkeiten, den Text in der Zeitung zu verstehen?“ Zwölf strecken die Arme. Hier stimmt das Ergebnis der Pisa-Studie.

Doch auch die Finnen konnten die Top-Resultate der Pisa-Untersuchung nicht richtig genießen. Denn gleichzeitig fanden finnische Wissenschaftler das Gegenteil heraus: Unsere Schüler lesen und schreiben immer schlechter. Jetzt wird diskutiert: Ist die Pisa-Untersuchung falsch? Oder begegnen die Finnen den Resultaten bescheiden mit einer typisch finnischen Einstellung: Wir sind nichts.

Die Glocke klingelt in der Alfred-Nobel-Oberschule. Anderthalb Stunden haben die Schüler über das Lesen gesprochen. Die Finnen können besser lesen, die Deutschen besser sprechen. Die Schüler der 10 B haben eifrig, klar und gründlich argumentiert. In einer finnischen Klasse habe ich erlebt, wie ein ausländischer Gast etwas fragt – und die ganze Klasse schweigt.

Die Autorin aus Helsinki ist derzeit im Rahmen des internationalen Austauschprogramms IJP zu Gast bei der taz-Berlin.

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