: Brandzeichen: IM
Wann, wenn nicht jetzt? Am Schauspiel Leipzig hat Andreas Dresen, der Filmregisseur von „Nachtgestalten“, mit „Akte Böhme“ eine grelle Farce über das Leben Ibrahim Böhmes inszeniert
von FRANK WALLIS
Wie er da so in seinem grauen Alltag hockt, das zerbeulte Jackett über den Schlafanzug gezogen und die Krawatte als Schlinge um seinen Hals gelegt, könnte er glatt als eine jener lebens- und lebermüden Tschechow-Gestalten durchgehen, die ihre Matratzengruft gegen eine feindliche Welt verteidigen. Wenn er hingegen seiner armen, alten Wirtin das Zimmer zur Hölle macht, indem er sie am Stock durch den Alltag hetzt und sich von ihr die tauben Füße massieren lässt, wirkt er eher wie ein Wiedergänger der klassischen Molière-Widerlinge. Und auf Nachfrage würde Manfred Böhme wohl sogar beide Rollen auf einmal für sich beanspruchen, um seine künstlerische Virtuosität unter Beweis zu stellen. Doch sein eigentlicher Text wartet zwischen Aktendeckeln und wird zur gegebenen Zeit gegen diesen professionellen Laienspieler sprechen . . .
Für ihre Uraufführung von Eugen Ruges „Akte Böhme“ am Schauspiel Leipzig haben Regisseur Andreas Dresen und Bühnenbildner Matthias Fischer-Dieskau einen praktikablen Bühnenraum entwickelt. Vorn versinken Zimmerwände, denen die bleierne Zeit auch Tür, Fenster und Spiegel blickdicht grau getrübt hat – fallende Linien für einen Stürzenden. Darüber droht, vor einer Wand aus Glasbausteinen, ein gigantischer Schreibtisch, wie ihn schon Heiner Müller als Unterleib der sozialistischen System-Kentauren kannte. Und mittendrin, auf einer schäbigen Pritsche, er: Manfred Böhme, genannt Ibrahim, geboren 1944, aufgewachsen im Waisenhaus und in seiner biografischen Schizophrenie unentrinnbar geprägt von den gesellschaftlichen Verabredungen in der DDR.
Der Dramatiker Ruge („Mir nichts. Dir nichts“, „Babelsberger Elegie“) erzählt den symptomatischen Fall dieses prominenten Wende-Politikers von seinem Ende her, das 1999 in Neustrelitz kam. Zwischen diese letzte Rechtfertigungs-Arie aber montiert Dresen, der vor allem mit seinem Film „Nachtgestalten“ bekannt wurde, die ebenfalls vom Autor gesammelten Auszüge aus den Stasi-Archiven, die das Opfer Böhme in seiner Doppelrolle als Täter zeigen.
Die Skepsis, ob man ein zeitgeschichtlich relevantes Schicksal schon zwei Jahre nach dem Tod des historischen Vorbildes in solcher Form verhandeln darf, weicht bei der Premiere nach wenigen Augenblicken einer Gegenfrage. Wann, wenn nicht jetzt, will man diesen fast Vergessenen noch auf die Bühne bringen? Bereits aus kurzer Distanz produziert die Tragik des Stasi-Zuträgers, der in klassischer intellektueller Selbstüberschätzung an eine Veränderung durch Beihilfe glaubte, beim Publikum vor allem Gelächter – was freilich auch an der Lesart des Textes durch Dresen liegt. Der Regisseur setzt gemeinsam mit seinem Hauptdarsteller Matthias Hummitzsch vor allem auf die misanthropischen Züge seines Antihelden, der sich vor berechtigten Vorwürfen in Larmoyanz flüchtet und seinen eigenen Erfindungen nicht mehr entkommen kann. Wenn er – wie hartnäckig behauptet – tatsächlich Ibrahim heißt, dann kann er wohl kaum 1944 in Bad Dürrenberg an der Saale geboren sein. Wenn er aber einen Doppel-Vornamen für seine Autobiografie akzeptiert, dann ergeben die Initialen in der passenden Reihenfolge das gefürchtete Brandzeichen: IM.
Dass und wie er ein solcher Inoffizieller Mitarbeiter wurde und war, erzählt die Akten-Collage als grelle Farce: Ausgerechnet mit eigenhändig verfassten Flugblättern, die Böhme 1978 auf dem Magdeburger Hauptbahnhof verstreute, wollte er einen direkten Dialog mit der Staatssicherheit provozieren. Um den Verdacht zugleich zu schüren und von sich abzulenken, zeigt er die Straftat selbst bei der Transportpolizei an. Er wird vernommen, verstrickt sich in Widersprüche und muss am Ende froh sein, mit einem verschwörerischen Händedruck davongekommen und künftig noch fester in den Fängen der Staatsmacht verhaftet zu sein. Dass man deren Mechanismen inzwischen als Spieluhr mit putzig kostümiertem Personal ablaufen lassen kann, ändert nichts an deren einstiger Allmacht.
In solcher Unschärfe mag man die Schwäche eines Abends sehen, der vom Publikum ausgiebig bejubelt wurde: Ruge, der seinen Duktus auch als Tschechow-Übersetzer gefunden und geschult hat, verkleinert den einst viel diskutierten Casus Böhme auf den Mikrokosmos des Sterbezimmers und auf den Lebens-Traum eines lächerlichen Menschen. Die Stasi-Sequenzen funktionieren als Zirkusnummern, die Tyrannei gegen Böhmes Pflegerin kokettiert mit der Tragikomik der Alterserotik. Erst wenn der Gehetzte endlich Ruhe gibt und findet, wenn er sich nach all seinen Entschuldigungen und Anklagen in sein Sterben fügt, verwandelt sich auch seine atemlose Flucht in ein geduldiges Zuhören. Dann sitzt die bislang fast stumme Wirtin neben seinem Bett und erzählt ein trauriges Märchen vom Kind mit den Schwefelhölzchen, das weder beim Onkel Lenin noch beim Onkel Willy heimisch werden konnte. Und das schließlich einsam starb, als ihm sein Zündstoff ausgegangen war.
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