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Reduziertes Bewegungsvokabular

John Neumeiers „Winterreise“: Ecken und Kanten statt choreographischer Schnörkel  ■ Von Stefanie Conrad

Es scheint, als hätte Hamburgs Ballettintendant John Neumeier die Kreation der Winterreise seit längerem in sich getragen. Einige Choreographien sind in den vergangenen drei Jahren diesem Ballett vorausgegangen, die sich um verwandte Motive wie Winter, Kälte und Einsamkeit ranken. Ausschlaggebend für Neumeier, den Schubert'schen Liederzyklus Die Winterreise zu verarbeiten, war seine Entdeckung der komponierten Interpretation für Tenor und kleines Orchester von Hans Zender. Der Schubert-Verehrer Zende schuf damit eine die eingefahrenen Hörgewohnheiten der Klassik-Rezipienten herausfordernde Modernisierung des Originals. Diese 1993 entstandene Fassung ist ein musikalischer Glücksgriff und richtungsweisend für die Choreographie.

Denn neue, Teilen des Hamburger Publikums gar zu unbequeme Wege beschreitet auch Neumeier in seiner Adaption. Vordergründig beschreiben die 24 Lieder eine winterliche Wanderung eines vergebens Liebenden, auf der er unter anderem an einem Dorf, dem Wirtshaus und der Post vorbeikommt. Hinter den pittoresken Bildern steckt dabei der Mensch als ein sich selbst und der Gesellschaft verloren gegangenes, heimatloses Wesen, wie er zum typischen Phänomen der Moderne geworden ist. „Ich habe bei der Beschäftigung mit dem Stoff an eine reduzierte, karge Sprache gedacht“, so Neumeier selbst. Die Umsetzung ist ihm gelungen und trifft den Kern der textlich-musikalischen Aussage: Verlust von Liebe, Sicherheit, Vertrauen in einer Zeit des Umbruchs und einer komplizierter werdenden Gesellschaft. Es sind die sparsamen Bewegungen, die intimen Ges-ten, die dem Ballett seine Ausdruckskraft verleihen. Etwa wenn die Hauptfigur seine Liebste umarmen will, über sie hinweggreift und seine lang ausgestreckten Arme von Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe erzählen.

Neumeier beweist Mut und Reife zu einem reduzierten Bewegungsvokabular, das sich der Sprache des Tanztheaters, Elementen aus Modern Dance und klassischem Ballett bedient. Ein sehr persönliches Werk, das nicht in romantischen Ballett-Bildern schwelgen lässt, sondern mitunter sperrig daherkommt. Neumeier deutet die Suche seiner umherirrenden Figuren an, führt sie aber nicht weiter aus. Seine Winterreise bietet keinen simplen, nachvollziehbaren Erzählstrang. Trotz der aneinander gereihten Szenenfolgen gelingt es dabei, den Spannungsbogen zu halten; auch indem der gesamte, durch eine Rampe vor dem Orchestergraben erweiterte Bühnenraum genutzt wird. Neumeier lässt seine Tänzer als multiple Charaktere durch die Winterlandschaft treiben, die die unterschiedlichen Facetten des suchenden Wanderers widerspiegeln. Mal als mondäne Frau mit Reisekoffer, mal als eleganter Mann mit Zylinder oder in einem übergroßen Wollpullover und mit Fellmütze.

Hervorzuheben ist der Solist Yukichi Hattori, dem eine beeindru-ckend tiefe Darstellung gelingt. Er bildet mal kindlich naiv, mal gebrochen verzweifelt den roten Faden des Stücks. Auch Tenor Scot Weir überzeugt, klug verbindet er die wichtigen Textaussagen mit der Choreographie. Das wunderbar schlichte Bühnenbild von Yannis Kokkos unterstützt deren Suche nach Reduktion. Eine doppelte Wand mit den Porträts der Tänzer aus Kindheit und Erwachsenenalter strukturiert den Raum, der Gegenwart und Erinnerung darstellt. Sparsam werden technische Mittel eingesetzt, wenn die Umrandung eines Hauses in blauem Halogenlicht erstrahlt, ein Lindenbaum kopfüber gedreht oder eine Glasscheibe herabgesenkt werden. Sehr eindringlich die Szene „Das Wirtshaus“, einer Metapher für das Grab: Wenn sich die Scheibe nach vorne absenkt, quetschen sich die Tänzer auf ihr wie in Särgen. Dann fallen sie wie Tote seitwärts auf den Boden – ein berührendes Bild.

Die Winterreise ist eine Kollektiv-Leistung des Hamburg-Balletts, das die choreographische Gedankenwelt Neumeiers verinnerlicht zu haben scheint. Die vereinzelten Buh-Rufe auf der Premiere können da als Kompliment einer mutigen, sehr ehrlichen Choreographie gewertet werden.

nächste Vorstellungen: 21.12., 9., 10. + 22.1.2002, jeweils 19.30 Uhr, Staatsoper

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