: Das Licht ist aus, das Lied bleibt
von JAN FEDDERSEN
Der Anfang auf zwei Tönen wie aus der Hammondorgel, die letzten Töne im Kalinka-Stil, der in mitteleuropäischen Ohren sehnsüchtig mit Russland assoziiert wird. Dazu ein Text über einen jungen Mann, der im fernen Moskau sich in eine Russin verliebt. Die ersten Zeilen lauten: „Der Rote Platz war menschenleer, vor mir ging Nathalie / Sie hatte einen schönen Namen ...“ Nathalie, immer wieder Nathalie, ihren Namen nennend, anrufend, flehend, laut wie ein Wolf bei Nacht, leise wie ein Liebender, bittend und rasend zugleich.
Mit dem Lied über eine Ferienbekanntschaft jenseits des Eisernen Vorhangs wurde er auch in Deutschland berühmt: Gilbert Bécaud, Franzose, Komponist, eine Institution in Frankreich, ein Veteran des auf Internationalität abonnierten Showbusiness. In Deutschland, in Ost wie West, war es immer wieder die Geschichte von „Nathalie“, die anrührte – und die ihn berühmt machte. Und Bécaud musste sie immer wieder singen, in Peter-Alexander-Shows, bei Peter Frankenfeld und auf Tourneen, zuletzt vor Jahresfrist auch in Deutschland, schon gezeichnet von seiner Krankheit. Und er tat es gern, immer wieder seine Chansons zu singen, selbst wenn sie schon vier Jahrzehnte alt waren. Bécaud war stolz auf seine Erfolge und noch mehr auf sein anhängliches Publikum, dem er nie verweigerte, was es wieder erkannte.
Bécaud ist gestern im Alter von 74 Jahren auf seinem Hausboot an der Pariser Seine gestorben. Seit langem litt er unter Lungenkrebs, und er wusste, dass er dieses Übel mit dem Tod bezahlen würde. In Frankreich hat die Nachricht von seinem Tod einen Schock ausgelöst. Dem Land war er ähnlich wichtig wie der Hippiebewegung Bob Dylan und der Motownszene Diana Ross: Bécaud als Mythos einer großen Nation, die mit ihm auf gehobenes Entertainment hielt.
Der Sohn eines Kaufmannes hatte ebendiese Sphäre im Blick, als er Ende der Vierzigerjahre in Paris begann, in Kneipen und Spelunken Klavier zu spielen (häufig übrigens mit Unterstützung der damals noch völlig unbekannten Caterina Valente) – wobei er sein Livekapital akkumulierte: Er wusste, als es wirklich auf den großen Bühnen losging, im „Olympia“ vor allem, genau, wie man ein Auditorium unterhält: nicht indem man den Leuten zwanzig Stücke serviert, sondern mit Hilfe jener Lieder eine Geschichte erzählt.
Dabei hätte Bécaud niemals ans Mikrofon treten müssen, allein als Komponist war er geschätzt und begehrt: „Et maintenant“, „L’important c’est la rose“ oder „It Must Be Him“ – allesamt Klassiker nicht durch Bécaud allein, sondern durch Kollegen wie Sinatra, Streisand, Garland, Valente oder Presley. Aber er wollte selbst entertainen, und das machte er zu seiner Zeit so gut wie nur wenige andere. Mit Edith Piafs Empfehlung („Ein guter Junge mit starken Armen“) und mit Übungsstunden in expressivem Ausdruck beim Pantomimen Marcel Marceau eignete er sich eine Showtechnik an, die die Menschen vergessen ließ, dass da einer im Grunde nur zwei Stunden vor ihnen am Mikro steht und mit einer Fülle von Liedern um Beifall buhlt.
Nicht nur in Deutschland hatte er sich das Markenzeichen „Monsieur 100.000 Volt“ erarbeitet. Über mehrere Jahre galt Bécaud unter Frankreichs Frauen als Traummann für ein Une-Nuit-Aventure: ein Mann, dem Unterwäsche auf die Bühne zu werfen keinem Sündenfall gleichkam. Bécaud – das war einer der letzten Entertainer mit Lounge-Appeal: Wie er vermochten es nur Petula Clark, Liza Minnelli, Barbra Streisand, Esther & Abi Ofarim, Nana Mouskouri und Frank Sinatra, einen Musikstil zu verkörpern, der vom Marketing her nicht auf juvenile Käuferschichten getrimmt war.
Dass unter dieser Aufzählung nichts aus deutschen Landen – die Valente ist schließlich Frankoitalienerin – dabei ist, verwundert nicht: Bécaud erst schlug hierzulande die Bresche, um Kollegen wie Udo Jürgens ein Auskommen zu ermöglichen. Im Land der Heiterkeitsschlager kam es einem Wunder gleich, dass einer wie Bécaud überhaupt Anklang fand.
Unter den kondolierenden Kommentatoren fand sich gestern einer, der auch weiß, was er der Basisarbeit Bécauds verdankt: Reinhard Mey. Er hat zwar keine „Nathalie“ erfunden – aber ohne sie hätte sein „Über den Wolken“ keine Marketingsitzung irgendeiner Plattenfirma überlebt. Den Spielraum für Qualität eröffnet zu haben, ist Bécauds wichtigstes Verdienst.
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