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Die andere Stadt

von Andreas Herzau (Fotos) und Mario Kaiser (Text)

Der grüne Zaun windet sich um die Wunde, als versuche er, sie zu verbinden. Polizisten stehen vor ihm wie Totenwachen. Atemmasken bedecken ihre Gesichter. Gestalten einer neuen Welt, einer neuen Zeit. Der Ort, den der Zaun verbirgt, ist zu einem Geräusch geworden. Das Quietschen der Kräne. Das Keuchen der Laster. Das Rattern der Stromaggregate. Das Donnern der einstürzenden Fassaden. Die metallische Stimme, die mahnt: „Please move away from the fence.“

Er bekommt jetzt Löcher. Erst kleine, rund wie Augen. Dann große, klaffende. Die Schaulustigen stellen sich an, geordnet in Reihe. Warten zwischen den Kerzen, die zu ihren Füßen brennen, den Blumen, die welk im Staub liegen. Dann beugen sie sich, pressen die Stirn an das Loch. Stecken Objektive hinein. Sehen den gezackten Rest der Fassade, der sich wie eine Kathedrale aus den Trümmern erhebt, silbern, ätherisch.

Sie tragen ihre Firmenausweise jetzt auch nach Dienstschluss am Hals. Damit man sie leichter identifizieren kann. Tragen kürzere Absätze. Damit sie schneller laufen können.

Ein verstaubtes Fahrrad lehnt abgeschlossen an einem Laternenmast. Am Lenker hängt die amerikanische Flagge, daneben Rosen, die die Köpfe hängen lassen. Auf dem Gepäckträger klemmt ein gelber Auftragszettel des „Flash Courier Service“: „We miss you, Felipe.“

Im Turm der St. Paul’s Chapel am Broadway ist die Zeit stehen geblieben. Der Pfarrer hat sie anhalten lassen. Um 8.48 Uhr, als das erste Flugzeug die Türme traf. Jetzt ruhen sich in der Kirche Bauarbeiter, Feuerwehrmänner und Polizisten aus, die in den Trümmern nach Leichen suchen. Sie finden jetzt wieder ganze Körper, Tote, die bereits in leeren Särgen verabschiedet wurden. Der Zaun vor dem Kirchenportal ist zu einer Wand der Erinnerung geworden. Die Toten lächeln von Glanzabzügen. Die Geliebten, die sie zurückließen, schreiben ihnen noch. Happy Birthday, Jimmy Quinn. Happy Birthday, Catherine Lisa LoGuidice.

Broker eilen in polierten Schuhen vorbei. Stenografieren Kommandos in ihre Handys, während sie einen Blick auf die Ruine hinter der Kirche werfen. Es ist der Blick, mit dem sie auf Obdachlose herabsehen. Sie wollen sie nicht sehen. Aber sie können nicht wegschauen.

Nichts ist vergessen. Wird es je sein. Auf der anderen Seite der Straße, in der Auslage von „Chelsea Jeans“, hat der Inhaber die Erinnerung konserviert. Luftdicht hinter Glas. T-Shirts und Pullover liegen unberührt in einem Schrein, bedeckt mit dem Staub des 11. September. Auf einigen schimmert die Flagge Amerikas durch den Staub. Über den Broadway rollt der Verkehr.

Vor der St. Sebastian Church in Queens salutieren Feuerwehrmänner mit weißen Handschuhen Bobby McMahon. Er liegt auf einem Löschwagen, sein Sarg gehüllt in die amerikanische Flagge. Seine Frau Julie folgt ihm, sein Sohn Matthew auf ihrem Arm. Die Stadt ist verstummt, nur eine Kirchenglocke läutet. Der Pfarrer legt die Hand auf den Sarg. Bobby lebt in uns, sagt er, und wir werden in Stärke aus dieser Kirche gehen, in die Dunkelheit der Tage, die vor uns liegen. Da fällt über Queens ein Flugzeug aus dem Himmel.

Auf dem Deck der Staten Island Ferry stehen die Touristen und suchen. Nach den markantesten Türmen dieser vertikalen Stadt. Die Stadt müsste größer werden, jetzt, da die Fähre sich ihr nähert. Doch sie sieht geschrumpft aus, gesackt, geduckt. Aus der Lücke, die die Türme hinterließen, ragen die Arme der Kräne. Ein Prediger liest aus der Bibel. Ich bin der Herr, ruft er, und außer mir gibt es keinen Retter. Hinter der Freiheitsstatue versinkt die Sonne, so rot, so glühend, als hätte der Himmel wieder Feuer gefangen.

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