: Harry Potter in Kabul
In Großbritannien wächst Unschlüssigkeit über die eigene Rolle als UN-Kommandant in Afghanistan
von DOMINIC JOHNSON
„Eine Harry-Potter-Lösung für etwas, was eigentlich ein Herr-der-Ringe-Problem ist“: So beschrieb der parteilose Lord Tanlaw am Montagabend im britischen Oberhaus die UN-Planungen für eine Schutztruppe für Afghanistan. „Gut gemeint und konventionell“ sei das, sagte der pensionierte Unternehmer mit jahrzehntelanger Asienerfahrung.
Kurz vor dem angestrebten Übergang vom Kriegs- zum Friedenseinsatz in Afghanistan sind in Großbritannien die Bedenken groß, gerade weil Großbritannien sich als Führungsnation für die UN-Truppe angeboten hat. „Es scheint im Moment alles ziemlich vage zu sein“, mäkelte bei der Oberhausdebatte zu Afghanistan Feldmarschall Inge, einer von mehreren ehemaligen höchsten Militärs, die am Montag zum ersten Mal im Parlament Stellung bezogen. „Es wird davon geredet, nur Kabul und vielleicht seine Umgebung und ein paar andere Städte, wo die UN-mandatierte Truppe stationiert werden könnte, zu sichern. Aber was wird anderswo im Land geschehen? Es wird auch gesagt, dass afghanische Militäreinheiten aus Kabul und anderswo abgezogen werden. Ich glaube jedoch, dass das schwierig zu erreichen sein wird. Und was, wenn diese Einheiten damit nicht einverstanden sind und sich weigern, sich zu bewegen oder ihre Waffen einzureichen? Sollen wir darauf vorbereitet sein, sie zu bekämpfen? Ich glaube, dass wir das bedenken müssen, bevor die Truppe stationiert wird.“
Genau wegen solcher Fragen ist ein UN-Sicherheitsratsbeschluss über die Truppe bisher nicht erfolgt. Großbritannien, die vorgesehene Führungsnation und Autor der entsprechenden Sicherheitsratsresolution, hat noch nicht einmal eine formelle Ankündigung über Umfang und Ziel seiner geplanten Beteiligung gemacht. Diese Ankündigung, so der Sprecher des britischen Premierministers Tony Blair am Montag, könne erst erfolgen, wenn man sich sicher sei, dass der Rat bald danach entscheiden würde. Später in dieser Woche könne die Ankündigung vielleicht erfolgen, sagte er. Mit anderen Worten: Noch gibt es im Sicherheitsrat keinen Konsens. Falls alles schnell geht, sollen erste britische Einheiten bereits zum 22. Dezember in Kabul sein. Sie sollen nicht identisch sein mit den Briten, die jetzt schon in Afghanistan stehen.
Derzeit laufen die britischen Vorstellungen, die in manchen Ländern wie Deutschland auf Kritik stoßen, auf eine kleine, robuste und flexible Truppe mit einer engen zeitlichen Begrenzung hinaus – eventuell nur drei Monate. Dies soll Sicherheitsproblemen entgegenkommen und den Druck auf die designierte afghanische Übergangsregierung erhöhen. Danach – unter hoffentlich besseren Bedingungen – will Großbritannien die Führung der Eingreiftruppe an muslimische Länder übergeben. Zu Beginn des Einsatzes genießt die UN-mandatierte Truppe nach britischen Vorstellungen den Schutz der US-Luftwaffe. Sie soll in Abstimmung mit den weiterhin aktiven US-amerikanischen und britischen Spezialeinheiten agieren.
Diese Planungen entsprechen eher den US-Vorstellungen, die den Kampf gegen den Terror betonen, als europäischen Ideen eines „nation building“ in Afghanistan. Unter britischen Militärs werden aber selbst diese Planungen mit Skepsis betrachtet, denn schon jetzt stöhnen sie über zu viele Einsatzorte auf der Welt. Britische Truppen stehen heute schon in Nordirland, Brunei, Zypern, auf den Falklandinseln, in Deutschland, Gibraltar und dem Indischen Ozean, hieß es am Montag im Parlament. Exgeneralstabschef Guthrie warnte, die britischen Streitkräfte seien „gefährlich überengagiert“, „unterbesetzt“ und „unterfinanziert“.
Immer öfter bekommt die Regierung Blair zu hören, dass ihrem Wunsch nach einer aktiveren britischen Rolle auf der Welt Taten folgen müssen. Die geltende britische Verteidigungsdoktrin aus dem Jahr 1998, die den Schwerpunkt auf schnelle Eingreiftruppen legt, gilt bereits als unzureichend. Der Verteidigungsausschuss des britischen Parlaments legte gestern einen Zwischenbericht zur Reform der Strategie vor, in dem erste Schlüsse aus dem Krieg gegen den Terror gezogen werden.
In Zukunft müssten die britischen Streitkräfte verstärkt präventiv tätig werden, heißt es in dem Bericht. Es gehe um „zerfallende und gescheiterte Staaten, die Terror- und Verbrechensnetzwerken politischen Raum bieten“. Explizit werden „Zentralasien, Ostafrika, vielleicht der indische Subkontinent“ als mögliche Aktionsfelder genannt – derzeit gelten Europa, das Mittelmeer und der Golf als primäre Einsatzgebiete. „Ein Fokus auf Vorbeugung gegen terroristische Bedrohungen könnte Spezialtruppen ins Herz zukünftiger Operationen stellen“, lautet die Folgerung. Das ist der Rahmen, in dem die britische Entscheidung über Afghanistan fällt.
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