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Der König stirbt

Ein heiterer Film über Tod und Vergänglichkeit, Abschiede und Abschiedsvorstellungen: In Manoel de Oliveiras „Ich geh’ nach Hause“ spielt Michel Piccoli einen Schauspieler, der des Darstellens müde ist

von KATJA NICODEMUS

Die Heiterkeit dieses Films ist nicht so recht zu fassen, zumal seine Hauptfigur bereits in den ersten paar Minuten bei einem Autounfall Ehefrau, Tochter und Schwiegersohn verliert. Die Schreckensnachricht kommt auch nur als kurze Mitteilung daher, dann werden Verlust, Schmerz und die Beerdigung in einem einzigen souveränen Zwischentitel aufgefangen: „Einige Zeit später.“

Einige Zeit später zieht Michel Piccoli den Schlafzimmervorhang auf und blickt hinunter auf seinen kleinen Enkel, um den er sich nun offensichtlich kümmert. Viel Raum nimmt die Enkelgeschichte aber nicht ein, und genau genommen erzählt Manoel de Oliveiras neuer Film überhaupt keine Geschichte.

In „Ich geh’ nach Hause“ spielt der bekannte Schauspieler Michel Piccoli den bekannten Schauspieler Gilbert Valence, der wiederum bekannte Theaterfiguren spielt. Den Potentaten, der sein Zepter abgibt und sich wie ein infantiler Tor benimmt in Ionescos „Der König stirbt“. Oder Shakespeares Prospero, der frei nach Calderón und zwischen allerlei Sinniererei über die Flüchtigkeit des Daseins einen der schönsten Sätze der Theatergeschichte sagt: „Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind.“

Dass in der Verlängerung dieses selbstbezüglichen Bühnenzitates der Tod auch das Ende der Repräsentation bzw. das Ende der Vorstellung bedeutet, wird Gilbert Valence irgendwann klar. Vorerst aber versucht er noch seine Auftritte hinzulegen, etwa wenn er sich ein paar schicke Schuhe kauft. Und sie mit der Leichtigkeit eines zart aufgeplusterten Flaneurs auf der Rue de Rennes spazieren führt. Später, im Café, ist es der Schuh, der minutenlang das Bild ausfüllt und seinen Besitzer in der Unterhaltung gewissermaßen vertritt. Oben, im Off, spricht Valence von Beruf und Berufung, Rollentausch und der Philosophie des Theaters, während sein Fuß dazu kleine dramatische Bewegungen macht. So absurd die Szene wirkt, schwingt in ihrer heiteren Marionettenhaftigkeit noch etwas anderes mit. Eine Vorahnung vom Verschwinden des Körpers und der Person, denen eben nicht die Unsterblichkeit von Theaterfiguren vergönnt ist.

Einfach gesagt geht es in „Ich geh’ nach Hause“ um einen Darsteller, der des Darstellens müde ist. Nur zögernd, vielleicht auch einfach aus Angst, etwas zu verpassen, lässt sich Valence von seinem Agenten eine alberne Rolle in einer noch alberneren Ulysses-Verfilmung aufschwatzen. Da sitzt er dann in einer langen leisen Slapstick-Einstellung geduldig vor dem Garderobenspiegel, wird gepudert und geschminkt, bekommt einen künstlichen Schnurrbart aufgeklebt, bis eine affige Pagenperücke schließlich die stumme Schlusspointe setzt.

So wird die Schauspielkunst in „Ich geh’ nach Hause“ eine Art Spiegelfläche für die allgemeine Gaukelei des Lebens. Den wenigen Szenen, Theatersituationen, Dreharbeiten, die innerhalb von Oliveiras Film mit der Erzeugung verschiedener Repräsentationssysteme befasst sind, haftet denn auch etwas besonders Hölzernes und Künstliches an. Gleichzeitig sind es genau diese Einstellungen, die durch Prominente in winzigen Nebenrollen den Reiz des Auftritts und der Illusion zelebrieren – in „Der König stirbt“ steht eine wunderbar genervte Cathérine Deneuve als Königin auf der Bühne herum. Auf dem Ulysses-Set ist es John Malkovich, der stirnrunzelnd den überkandidelten Regisseur chargiert. In dieser Film-im-Film-Szene, die alle Ingredienzen einer grauenhaften Europudding-Produktion in sich vereint, wird Valence zum ersten und wahrscheinlich auch letzten Mal aus der Rolle fallen: „Je rentre à la maison“ – „Ich geh’ nach Hause“. Oder auch: „Lasst mich in Frieden“.

„Alles wird sich auflösen wie die Schatten eines Spiels und nicht die geringste Spur hinterlassen“, sagt Michel Piccoli als Prospero. Dass das Leben weitergeht, auch wenn sich unsere eigene kleine persönliche Vorstellung dem Ende zuneigt, ist eine so banale wie bittere Erkenntnis. Oliveira fasst sie in zwei Einstellungen: der Pariser Straßenverkehr mit seinem Gehupe und Gedränge und dann eine unglaublich melancholische Großaufnahme von Piccoli, der hinter der Fensterscheibe eines Cafés grüblerisch auf das Getümmel blickt.

Durch diese Offenheit seiner Filmsprache lässt Oliveira den Dingen, von denen er erzählt, eine ungeheure Freiheit. Manchmal führt sie fast in die Abstraktion: Wenn Valence vor einer Schaufenstervitrine stehen bleibt und ein Gemälde betrachtet, gibt es in seinem Gesicht eine winzige Veränderung, vielleicht ausgelöst von einem wehmütigen Gedanken. Beim Weitergehen ist diese Erinnerung nur noch eine leise Klaviermelodie, die sich mit ihm in den Straßen zu verlieren scheint.

„Je rentre à la maison“. Die einen gehen, die anderen kommen, und das Rad bleibt in Bewegung. Einmal, kurz bevor er wieder in seinem Stammcafé verschwindet, gibt Valene/Piccolo einem Drehorgelspieler ein paar Franc. Und irgendwann rotiert zwischen zwei Szenen ganz unvermittelt ein birnchenstrahlendes Riesenrad über den nächtlichen Tuilerien. Oliveira, mit 93 Jahren der älteste lebende Regisseur der Welt, denkt noch lange nicht ans Aufhören. Nach „Ich geh’ nach Hause“ hat er schon einen weiteren Film fertig gestellt und dreht schon wieder den nächsten.

„Ich geh’ nach Hause“. Regie: Manoel de Oliveira. Mit: Michel Piccoli, John Malkovich, Cathérine Deneuve u. a. Frankreich 2001, 86 Min.

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