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der prozessbeobachter„Keine Beweise von Seiten der Anklage“

Marcel Bosonet, Schweizer Jurist

taz: Herr Bosonet, Sie haben den Angeklagten Matthias Borgmann im Gefängnis besucht. Wie war die Stimmung?

Marcel Bosonet: Persönlich geht’s ihm ganz gut. Aber nach fast zwei Jahren in Untersuchungshaft ist die Stimmung natürlich gedrückt. Von Seiten der Anklage sind bisher keine Beweise vorgebracht worden, die diese lange Untersuchungshaft rechtfertigen würden.

Aber es gibt doch die Aussagen von Tarek Mousli?

Die Problematik ist doch, dass im Prozess seit über dreieinhalb Monaten keine Befragung dieses Kronzeugen mehr stattfindet. Vielmehr werden Straftaten verhandelt, die nur dann relevant sind, wenn dieser Kronzeuge glaubhaft wäre. Borgmann hat so keine Chance, die Aussagen durch seine Verteidiger widerlegen zu lassen. Stellte sich heraus, dass der Kronzeuge lügte, müsste der Prozess eingestellt werden.

Sie nehmen als internationaler Beobachter teil. Warum?

Weil ich schon in verschiedenen anderen Ländern an solchen politischen Prozessen teilgenommen habe, bin ich von den Demokratischen Juristen der Schweiz angefragt worden. Ich habe außerdem Länderberichte zur allgemeinen Menschenrechtssituation verfasst, etwa zu Guatemala, Kolumbien und zu Prozessen in der Türkei.

Wie war Ihr persönlicher Eindruck vom Prozessverlauf?

Die Anklage stützt sich in erster Linie auf diesen Kronzeugen. Und dieser müsste nun das zentrale Prozessthema sein. Kann man ihm Glauben schenken? Was sind die Hintergründe, die zu diesen belastenden Aussagen geführt haben? Das Gericht unternimmt bisher nichts, um wirklich Licht in diese Anschuldigungen zu bringen. Alles, was die Glaubwürdigkeit dieses Kronzeugen hinterfragt, wird verhindert.

Wie geschieht dies?

Es werden Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt. Akten werden den Verteidigern vorenthalten, Berichte werden unvollständig zu den Akten gereicht. Das sind alles Punkte, die nicht zur Klärung des Verfahrens beitragen. Es gibt übrigens Prozessordnungen in anderen Ländern, nach denen allein die Aussage eines Kronzeugen nicht zur Verurteilung genügt.

Das ist laut Bundesgerichtshof auch in Deutschland so.

Mit diesem Kronzeugen steht und fällt die ganze Anklage.

Würde das Verfahren in irgendeinem anderen Land Europas anders ablaufen?

Mit guten Grund gibt es in der Schweiz bisher kein Kronzeugengesetz, weil es verfassungswidrig ist. Ein solches Gesetz ist rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigen. Es widerspricht dem Grundsatz, dass ein Zeuge ohne Druck aussagen soll und dass keine Vergünstigungen in Aussicht gestellt werden dürfen. Interview: CHRISTOPH VILLINGER

Marcel Bosonet (52), Strafverteidiger in Zürich, Mitglied der Schweizer Demokratischen Juristinnen und Juristen

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