: Krebs kann den Sex zerstören
Die Diagnose Krebs hat auch weitreichende Konsequenzen für das Intimleben. Viele Krebspatienten leiden nach der Behandlung unter Lustlosigkeit, Erregungsschwäche oder Scheidenkrämpfen. Für einige ist Sex überhaupt kein Thema mehr
von EVELYN HAUENSTEIN
Sabine M. war gerade 40 Jahre alt, als ihr Gynäkologe sie mit der Diagnose Gebärmutterkrebs konfrontierte. „Das Wort Krebs kam mir vor wie ein Todesurteil“, berichtet Frau M. auf der Homepage der Deutschen Krebshilfe. Gerade erst hatte sie den Mann ihrer Träume kennen gelernt, eigentlich war ein gemeinsamer Urlaub geplant. „Mein Freund reagierte sehr feinfühlig und unterstützte mich, wo er konnte. Worauf uns aber niemand vorbereitet hat – auch kein Arzt –, waren die Folgen, die Operation und Bestrahlung auf unser Intimleben hatten.“ Sabine M. litt häufig unter Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, und immer wieder blutete die Narbe an der Scheide. Mehr und mehr zog sie sich von ihrem Freund zurück, wurde langsam depressiv.
Die Diagnose Krebs löst bei den Betroffenen und ihren Angehörigen Angst und Verunsicherung aus; als „Sturz aus der Wirklichkeit“ bezeichnet der Psychologe N. Gerdes das, was Patienten bei der Mitteilung des Befundes erfahren. Alles wird auf einmal in Frage gestellt, Dinge, die vorher wichtig waren, werden zweitrangig oder treten völlig in den Hintergrund. Das gilt besonders für das Sexualleben: Kann die Sexualität von Krebspatienten wirklich von Bedeutung sein – in einer Situation, in der sie vollständig von der Bewältigung ihrer Krankheit beansprucht sind?
In der ersten Phase der Erkrankung würde die Mehrzahl der Patienten diese Frage sicher verneinen. Mit der Rückkehr in die Normalität gewinnt jedoch auch die Sexualität wieder an Bedeutung, sei es durch das Auftauchen eigener Wünsche und Fantasien, durch die Erwartungen des Gegenübers oder die ständige Konfrontation mit dem Thema Sex im Umfeld.
Doch selbst wenn die Rückkehr in den gewohnten Alltag gelingt: Normalität im Bett stellt sich deshalb noch lange nicht ein. „Eine Krebserkrankung verändert das Körperbild völlig“, stellt Stefan Zettl fest. Der Biologe und Psychologe betreut Krebspatienten am Tumorzentrum der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg. „Therapeuten haben lange Zeit darauf gehofft, dass sich die Patienten allmählich an ihren Körper gewöhnen“, sagt Zettl, „doch die Beeinträchtigung ist längerfristig.“ Betroffene Frauen haben Angst, nicht mehr attraktiv zu sein, oder sie glauben, dass der Partner oder die Patnerin nun keinen Sex mehr wünscht, weil sie nicht mehr so aussehen oder sich anfühlen wie vor der Behandlung. Die Folgen: Lustlosigkeit, Erregungsschwäche, Scheidenkrämpfe, Schmerzen beim Sex, Orgasmusschwierigkeiten.
Beispiel Brustkrebs: Heute werden zwei Drittel aller Patientinnen brusterhaltend operiert. Nur noch bei einem Drittel muss die Brust amputiert werden, was noch vor einigen Jahren die Standardprozedur war. In den meisten Fällen ist danach ein Brustaufbau aus einem Rückenmuskel oder mit Hilfe einer Silikonprothese möglich. Dennoch genügt die Wiederherstellung der Silhouette – die „äußere Reparatur“ – nicht, um den inneren Schaden zu beheben, hat Psychoonkologe Zettl beobachtet. Brustkrebs ist zwar der häufigste gynäkologische Tumor, aber auch Krebs an Gebärmutterhals oder Eierstöcken kann ähnliche Konsequenzen für das Intimleben der Patientinnen haben.
Krebskranke Frauen haben stärkere Probleme damit, ihren durch die Krankheit veränderten Körper zu akzeptieren, als Männer. Schon gesunde Frauen sind mit ihrem Körper unzufrieden, viele quälen ihn mit endlosen Diäten und Fress-Brech-Anfällen. Schuld daran sei das „gnadenlose Schönheitsdiktat“, dem sich Frauen heute überall ausgesetzt sehen, meint Zettl.
Wichtig sei bei der Therapie vor allem eins: „Man kann nicht davon ausgehen, dass das Sexualleben der Patienten vor der Krankheit in Ordnung war.“ Sex sei kein naturgegebener Akt, der stets auf Knopfdruck funktionieren würde. So gibt jede dritte Frau an, beim Sex verminderte Lust zu verspüren, jede fünfte leidet unter Orgasmusstörungen, fünfzehn Prozent haben regelmäßig Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Kommt dann noch der Krebs dazu, werden die Grenzen dessen, was die Patientin psychisch kompensieren kann, schnell überschritten.
Aber auch an Männern geht eine Krebserkrankung niemals spurlos vorbei, im Bereich der Sexualität schon gar nicht. Die Behandlung der häufigsten Tumore der männlichen Geschlechtsorgane – Prostata- und Hodenkrebs – hat tief greifende Folgen: mangelnde Lust, Erektionsschwäche und vorzeitige oder ausbleibende Ejakulation.
Bei der chirurgischen Entfernung der Prostata werden Nervenbahnen durchtrennt, danach verlieren die meisten Patienten die Fähigkeit zur Erektion. Dies hat Auswirkungen nicht nur auf das Sexualleben an sich, sondern auch auf die Selbstwahrnehmung als Mann und den täglichen Umgang mit der Patnerin oder dem Partner, wie eine im Journal of General Internal Medicine veröffentlichte US-Studie unlängst gezeigt hat. Zwar bemühen sich Urologen und Chirurgen seit Jahren um schonendere Operationstechniken, doch vorhersagen lässt sich nicht, ob sich der für die sexuelle Impulsübertragung zuständige Nervus cavernosus wieder erholt. Häufig werden Männer mit Prostatakrebs durch eine Operation nicht nur impotent, sondern auch inkontinent: „Es löst intensive Scham aus, wie ein Kind Windeln tragen zu müssen“, berichtet Zettl. „Die Männer fühlen sich weniger begehrenswert und meiden jeglichen intimen Kontakt mit ihrer Partnerin.“
Tumore der Geschlechtsorgane sind jedoch nicht die einzigen Krebskrankheiten, die die Sexualität beeinflussen. Manche Patienten die unter Darmkrebs leiden, bekommen nach der Operation einen dauerhaften künstlichen Darmausgang. Für die Betroffenen ist es ein tief greifender Einschnitt in ihr bisher geführtes Leben, nun einen mit Kot gefüllten Beutel am Körper tragen zu müssen. Viele Patienten fühlen sich nicht mehr salonfähig und ziehen sich zurück; über die Hälfte der Stomaträger ist nicht mehr sexuell aktiv.
Störungen im Sexualleben sind nicht an eine bestimmte Tumorart gebunden: Jeder Krebspatient kennt Phasen chronischer Müdigkeit, Schmerzen und die Angst vor einem erneuten Ausbruch der Erkrankung – all das wirkt wenig anregend auf das Intimleben. Chemo- und Strahlentherapie tun ihr Übriges, Unfruchtbarkeit und hormonelle Störungen gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen der den Tumor zerstörenden Substanzen.
Nicht alle Krebskranken reagieren darauf gleich. Während die eine schwer mit ihrer sexuellen Beeinträchtigung zu kämpfen hat, erlebt sie ein anderer mit Gleichgültigkeit oder sogar mit Erleichterung. Endlich gibt es einen Grund, sich den Anforderungen des oder der anderen zu entziehen. „Menschen, die früher Freude an sexueller Aktivität fanden, versuchen in einer solchen Situation eher, neue Formen von Zärtlichkeit und Körperkontakt zu entwickeln“, sagt Stefan Zettl. „Andere, die ihr Leben lang unter Schuldgefühlen oder Gewalterfahrungen gelitten haben, sind eher froh, das Kapitel Sexualität abzuschließen.“ Ob ein erfülltes Sexualleben im Leben mit oder nach dem Krebs gelingt, hängt am allerwenigsten von den tatsächlichen anatomischen Veränderungen am Körper ab.
Entscheidend ist neben dem Selbstbild der Patienten auch die Qualität seiner oder ihrer Partnerbeziehung: „Gute Ehen werden besser, schlechte Ehen werden schlechter“, kommentiert der Heidelberger Therapeut. Wenn die Kommunikation vor der Diagnose Krebs gestimmt hätte, würden Paare die Krankheit als Chance zur Weiterentwicklung nutzen. Die Beziehung werde verbessert und vertieft. Meist sind es dabei die Frauen, die das Gespräch vorantreiben, egal ob selbst betroffen oder als Partnerin. Wie Sandra M.: Nach mehreren Gesprächen mit einem Psychotherapeuten war sie bereit, mit ihrem Partner über ihre Gefühle zu sprechen. Die beiden konnten wieder zueinander finden – auch im Bett.
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