Weihnachten? Reine Nervensache

Weihnachten für die Familie: Sorgsam und sensibel gestalten die Eltern das Fest für die Kinder. Man hat ja seine Erfahrungen
von BARBARA DRIBBUSCH

Der Pfarrer hat das Christkind verschwinden lassen. Einer dieser jungen Pfarrer war es, die man sich gut im Fernsehen beim „Wort zum Sonntag“ vorstellen kann, vor einer Kläranlage predigend und über das Gute und Schlechte in der Welt schwadronierend. Im Gottesdienst zum ersten Advent plauderte der Pfarrer aus seiner Kindheit – das wirkt menschlich – und schilderte, wie bei ihm zu Hause früher die Eltern die Weihnachtsgeschenke im Schrank versteckt hatten.

Weihnachtsgeschenke im Schrank! „Haha, dann gibt es ja gar kein Christkind“, grinste der siebenjährige Sohn am Abend, „hallo Christkind Mama und Papa!“ Jetzt versteckt der Kleine seine Weihnachtsgeschenke für die Eltern auch im Schrank. Wir tun so, als wüssten wir von nichts, und er merkt genau, dass wir so tun, als wüssten wir von nichts.

Weihnachten ist ein Fest, an dem Kinder wachsen. Und Eltern regredieren, auf ihre eigenen Erinnerungen. Vordergründig fühlt man sich als Kinderbesitzer zwar erst mal überlegen, denn man kennt das ja, die Überlegungen der Kinderlosen, wie man denn dieses Jahr . . . Da gibt es die Bulthauptküchenfraktion, gut verdienende Paare, die zum viergängigen Dinner ins designte Dachgeschoss einladen, dann die Fernreisenflüchtlinge – „wir fliegen nach Teneriffa“ – und schließlich die Singles, die zu den alten Eltern nach Hause fahren. Selbstverständlich bietet man ihnen an: „Komm doch zu uns!“ Sie kommen nie.

Denn sie wissen: Familienweihnachten ist ein ganz spezielles Programm. Nicht mal so sehr wegen der Kinder. Sondern wegen der Eltern. Im Unterschied zu den Kindern haben Erwachsene schon eine lange „Weihnachtsbiografie“ durchlebt, und die macht ganz sensibel. Es gilt, gute Erinnerungen zu pflegen, Sozialstress hingegen zu meiden, kurz: Christmas light ist angesagt.

Stichwort Gaben: Nützlich sind Geschenke, mit denen die Kinder gleich an Heiligabend spielen können, ohne die Wohnung umräumen zu müssen. Neue Computersoftware, die aufwendig zu installieren ist, sollte man ebenso meiden wie Computerspiele, die selbst die Eltern überfordern. Bei Büchern für Erwachsene kann man in diesem Jahr wenigstens nichts falsch machen: Nur die wenigsten besitzen schon Aufklärungsbücher über den fundamentalistischen Islam.

Übertriebene Heimlichtuerei vor den Kindern macht auch Stress. Man muß ja nicht gleich die Geschenke vor den Augen der Kleinen einpacken, aber in anderen Ländern ist das gemeinsame Schmücken des Baumes längst üblich. Die deutsche Thomas-Mann-Nummer – bei der die Tür zum Weihnachtszimmer aufgeht und die Kinder den leuchtenden Tannenbaum bestaunen, nachdem die Eltern größenwahnsinnig Christkind gespielt haben – kann man heute im Fernsehen bewundern und muss sie nicht mehr selbst inszenieren.

Wer an die Kirche nicht allzu schlechte Erinnerungen hat, sollte den Familiengottesdienst mit Krippenspiel nicht verpassen. Das strukturiert den Tag und nimmt den Eltern die Gestaltung des Nachmittags ab. Auch deswegen ist manche Kirche am Heiligen Abend so voll, als würde ein Kultfilm gezeigt. Schon eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes kommt die Vorhut (oft in Gestalt der Großmütter) und legt lange Schals über die Sitzreihen, um die Stühle für die Nachkommenden zu reservieren. Der Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel ist wahrscheinlich die Veranstaltung mit dem höchsten Eintrittspreis, wenn man die gezahlte Kirchensteuer umrechnet.

Entspannend ist das Mitsingen in der Kirche, denn die Orgelklänge gehen direkt ins limbische System, und Singen macht sowieso meist gute Laune. Die langsame Kirchenmusik mit den getragenen Melodien stellt nur geringe Ansprüche an die Sangeskunst. Wer Angst hat, die Töne nicht zu treffen, kann ab und an mit dem Mittelfinger der rechten Hand das rechte Ohr zuhalten, so vernimmt man, wie sich die eigene Stimme „von außen“ anhört. Auch wer nicht gläubig ist, kann übrigens einer Predigt etwas abgewinnen: an Aufbau und Metaphorik läßt sich gute oder schlechte Rhetorik eines Pfarrers studieren.

Weihnachten ist ein Fest der Bilder, Klänge, Gerüche und Geschmäcker. Deshalb muß die Sache mit der Weihnachtsgans am ersten Feiertag gut überlegt sein. Haftet daran nicht die Erinnerung von großem Sozialstress, als sich früher die zahlreiche Verwandschaft einstellte und die Mutter schon am Morgen unter Druck geriet, der Weihnachtsgans die knusprige Konsistenz zu verschaffen? Die Weihnachtsgans ist nur etwas für Nervenstarke. Sensible Menschen gehen lieber essen und halten die Zahl der Eingeladenen klein.

Fakt ist: Weihnachten ist ein Programm, ein inneres. Entkommen ist nicht. Man kann nur versuchen, jedes Jahr ein bisschen an der Software herumzubasteln.

Weihnachten gegen die Familie: Nichts wie weg von den Eltern an den Festtagen! Man hat ja seine Erfahrungen. Bloß: wohin?
von MIRIAM MERKER

Nein, nicht mehr zu den Eltern. Erstens ist es sowieso zweifelhaft, jenseits der Thirtysomething noch im Elternwohnzimmer Weihnachts-CDs zu hören und Rührung angesichts der nächsten Ladung Gänsebraten zu heucheln. Zweitens sind gerade Menschen, die keine eigene Familie gegründet haben, besonders anfällig für diesen unheimlichen Flashback, der einen angesichts der archaischen Szenen (Streit um den Tannenbaum, Streit darum, ob man in die Kirche geht) ereilen kann. Tiefste, längst verarbeitet geglaubte Kindheitstraumata senken sich in derartiger Klarheit und Größe aufs Gemüt, dass man bis Ostern braucht, um sich zu versichern, man sei doch ein erwachsener Mensch mit einem Beruf, von dem sich leben lässt, und hänge eigentlich nicht ganz unmittelbar von der (selbstverständlich mangelnden!) Wertschätzung der Erzeuger ab.

Nicht zu den Eltern: Mein Liebster war sich ganz sicher, nachdem ihn im letzten Jahr beim Besuch im Norddeutschen eine dauerhafte Depression befiel, von der er mich in verzweifelten kleinen SMS-Bruchstücken unterrichtete. Ich hatte versucht, eine elegantere Lösung zu wählen, und Weihnachten bei meiner Schwester plus Familie verbracht. Aber erstens hatte sie auch meine Eltern eingeladen, so dass gewisse ungeliebte Kommunikationsmuster nicht ganz überhört werden konnten, zweitens musste ich feststellen, dass die Sitte, Weihnachtsterror auszuüben, sich offenbar ohne Mendelschen Generationensprung auf die nachfolgende Familie überträgt. Also suchte ich, zwischen heulenden Söhnen, deren Carrerabahn nicht funktionierte und die sich deshalb weigerten, Weihnachtslieder mitzusingen, und schreiendem Baby eine echte Alternativlösung.

Was soll ich sagen, dieses Jahr ist weihnachtstechnisch ein Albtraum.

Wir fahren nach Istanbul!, hatten der Liebste und ich im Sommer beschlossen, da gibt’s kein Weihnachten, da ist es vielleicht wärmer als hier, ein netter Kurzurlaub. Dass es dort wärmer sein soll, erwies sich bald als Irrtum, egal. Mitte November dann wurde der Gute beim Thema Türkei zunehmend einsilbiger: Er wisse gar nicht, ob er nicht zu viel zu tun habe. Istanbul sei ja auch teuer, lieber sollten wir doch im Februar nach Spanien fahren. Ich hätte es gleich merken müssen, argumentierte aber noch tapfer dagegen: Von teuer keine Spur, und welches vernunftbegabte Wesen denkt daran, um Weihnachten herum zu arbeiten? Doch der Widerstand wurde massiv: Wenn er seine Eltern nicht zu Weihnachten besuche, dann müsse er vorher oder nachher hinfahren, und dafür sei nun wirklich keine Zeit. Langsam wurde mir klar, dass ich es mit einem echten Fall von Wiederholungszwang zu tun hatte, und da unsere Beziehung auf der Vereinbarung beruht, dass jeder seine Neurosen ohne lange Diskussionen kultivieren darf, gab ich auf.

Also mit netten Freunden gemütlich feiern: Die Zahl der netten Freunde, die einen nicht darauf aufmerksam machen, dass sie erst zum Krippenspiel wollen, dann früh bescheren, und eigentlich ist man ja schon geschafft wegen der ermüdenden Vorbereitungen, sprich: die Zahl der Freunde ohne Kinder sinkt von Jahr zu Jahr rapide. Meine kinderlose Mitbewohnerin? Hat zur Abwechslung mal ihre ganze Familie samt Eltern, Oma und Schwager zu sich geladen. In unsere Wohnung!

Ich muss weg, so viel ist klar. Soll ich doch zu meinen Eltern fahren? Vorsichtig frage ich erst bei meiner Schwester an. Die erklärt fröhlich, dass man im tiefen bayerischen Wald feiere, mit der etwa 30-köpfigen Familie ihres Mannes und – meinen Eltern. Hm. Deshalb also war die alljährlich zart und vorsichtig formulierte Weihnachtseinladung der beiden ausgeblieben.

Ich ertappe mich dabei, leisen Druck auf meinen Partner auszuüben. Auf seine Frage, was ich denn nun Weihnachten mache, entwerfe ich Szenarien einer einsam in verschneiten Berliner Straßen umherirrenden Person, die sich spät in ihre Wohnung schleicht, um dann neben der fröhlich feiernden Mitbewohnerinnenfamilie in ihrem Zimmer zu liegen und in ihre Kissen zu weinen. Er ist nicht beeindruckt.

Ok, ich fahre zu einer Freundin, die zwar zwei Kinder hat, aber ausnehmend nette, und die in ihrem Leben eine solche Dosis Familienterror abbekommen hat, dass ihr Weihnachten auf jeden Fall entspannt sein wird.

Meinen Eltern entgehe ich trotzdem nicht. Zufällig hat mein Vater noch einen Termin in Berlin, kurz vor Weihnachten. Wir treffen uns, essen gut, tauschen Päckchen aus, und, ehrlich: es ist richtig nett. Keine Neurose lässt sich blicken, wir unterhalten uns angeregt, irgendwie hat doch dieser Mensch so viele liebenswerte Seiten, fällt mir plötzlich auf. Ich könnte meine Eltern demnächst wirklich mal wieder besuchen. Vielleicht zu Ostern.