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So ein Dreck, das Geld ist weg

Es ist Renntag. Vielleicht einer der letzten, so genau weiß das hier niemand, aber das ist jetzt egal. Vor „Butze’s Imbissbude“ herrscht Endzeitstimmung: Eine Hymne auf die Trabrennbahn Karlshorst, ein Paradies für Zocker und Rentner aus Ostberlin

Die anderen nicken, draußen laufen wieder die Pferde. „Ilse, Ilse!“

von DANIEL WIESE

„Tut mir Leid, Ihnen das sagen zu müssen“, sagt der Mann zu mir, „das wird nichts.“ „Vielleicht wenn er sich Mühe gibt?“, wendet der zweite ein. „Nee, nee, ihm fehlt das Grundwissen“, sagt der erste. Der dritte schweigt. Wir stehen am Rande der Trabrennbahn Karlshorst, über uns das Dach von „Butze’s Imbissbude“, vor uns einige Flaschen Berliner Kindl. Es ist Renntag. Vielleicht einer der letzten hier in Karlshorst, so genau weiß das im Moment niemand, aber das ist jetzt egal. Irgendwo weit draußen laufen kleine Punkte vorbei, das sind die Pferde, und hinter ihnen sitzen noch kleinere Punkte, das sind die Fahrer. Darum geht es. „Sie wollen das doch gar nicht verstehen“, sagt der erste Mann.

Wenn man die harten Stammgäste treffen wolle, hatte man mir gesagt, die wirklichen Experten, solle man rausgehen zur Imbissbude. Natürlich kann man auch in der Halle bleiben. Schon von weitem leuchtet sie in der Dunkelheit, und in ihrem Inneren spielen sich mitunter dramatische Szenen ab. Einmal sah ich einen älteren Herrn mit einem mächtigen weißen Bart. Er zog ein Kind hinter sich her und schien sehr verzweifelt. „Niemand leiht mir Geld“, rief er der Bedienung am Tresen zu, doch auch die blieb eisern. Ein Glas Wasser, mehr gab es bei ihr nicht.

Die Welt der Trabrennbahnen ist nicht für Außenstehende gedacht. Die Lautsprecher geben unverständliche Ansagen durch. „Kurzer Kopf ...“, „totes Rennen ...“, „halbe Länge ...“, tönt es aus ihnen heraus, doch die Rentner in der Halle verstehen diese Sprache. Nach einen geheimen System füllen sie die Wettscheine aus und studieren die kleinen Broschüren, die am Eingang verteilt werden. „Traberkurier“ steht auf den Broschüren, jeder hat hier eine dabei. In kleinen Gruppen stehen sie in ihren Windjacken zusammen. „Der geht nicht mit, den kannste vergessen.“ – „Nee, ich mach’s alleene, ihr könnt machen, was ihr wollt.“

Die Trabrennbahn Karlshorst weist einige Besonderheiten auf. So ist an der Stirnseite der Halle eine Anzeigetafel angebracht, hinter der irgendjemand sitzen muss, jedenfalls sieht man durch die Ritzen Licht. Vor jedem Rennen klappen aus der Anzeigetafel Schilder heraus, auf denen Nummern stehen und Namen. Was die Nummern und Namen bedeuten, ist nicht zu erkennen, aber manchmal sind die Namen mit Kreide geschrieben, wahrscheinlich hat sich dann irgendwas geändert. Auf diese Weise hat der Mann hinter der Anzeigetafel immer genug zu tun.

Auf der Trabrennbahn Karlshorst gibt es auch ein Hinterzimmer, in dem gezockt wird, aber die echten Pferdewetter verachten die Zocker. „Die interessieren sich nicht für Pferde, für die könnten es auch Schweine sein“, heißt es draußen beim Imbiss, wo einer, den sie Kurt nennen, gerade eine Glückssträhne feiert. „Von der Stute hab ich nie gehört“, sagt sein Freund. „Weltmeisterin, Olympiasiegerin“, kontert Kurt, der zugibt, dass er auch auf die Quoten schaut, da kann er sehen, wie die anderen wetten. Darum rennt er auch immer erst in letzter Minute los, um den Wettschein abzugeben. „Du bist ein Molch“, sagt der Freund. „Molch“, so nennen sie einen wie Kurt, doch mit Glück hat das nichts zu tun, eher mit Wissenschaft. „Ich bin kein Spieler“, sagt unaufgefordert der dritte, der sonst immer schweigt. Noch nie sei er im Casino gewesen.

„Man kann nicht bei allen Rennen wetten, man muss sich auf eins konzentrieren“, sagt der Wortführer von der Imbissbude, ein ehemaliger Amateurfahrer, 180 Siege. 1946 war er zum ersten Mal in Karlshorst. „Da hat Sichel das Derby gewonnen, das spricht man übrigens nicht Dörby, sondern Darby, weil es von Lord Derby kommt und ein Eigenname ist, das weiß natürlich wieder keiner“, er aber schon. Als Sichel das Derby gewann, war sie schwanger mit Stichelei, und Stichelei hat dann später das Derby gewonnen, in gewissem Sinne zum zweiten Mal, bei ihrer Mutter war sie ja auch schon dabei.

Die Trabrennbahn Karlshorst hat große Stunden erlebt. An Puramus zum Beispiel erinnert sich noch jeder vor „Butze’s Imbissbude“. „Puramus war der schnellste Antreter, den Berlin je gesehen hat“, sagt der ehemalige Amateurfahrer. „Nach 800 Metern war der schon Erster.“ Die anderen nicken, draußen laufen wieder die Pferde. „Ilse, Ilse!“, ruft es von der Imbisstheke, über der ein überdimensionaler Senfkübel hängt. „Ilse muss gewinnen“, murmelt eine Frau im Kunstpelz.

In der DDR war Karlshorst die einzige Trabrennbahn. Bei der Imbissbude wird die Meinung vertreten, dass sie immer noch die beste sei. „Einmal war ich in Baden-Baden“, sagt der Amateurfahrer, „gut, das ist keine Trabrennbahn, aber es gab nur Fürstenberger, das trinkt doch niemand.“ Dass die andere Berliner Trabrennbahn in Mariendorf eine fünfstöckige Tribüne mit Vollverglasung hat, wird anerkannt, allerdings sei es schlecht für die Fahrer. „Die kriegen doch vom Publikum gar nichts mit“ und, umgekehrt, das Publikum nichts von den Pferden.

Von der Imbissbude in Karlshorst aus dagegen hört man Hufgetrappel, wenn sie näher kommen. „Fioretto hat einen Vorteil“, ruft die Stimme aus dem Lautsprecher. Der ehemalige Amateurfahrer erstarrt, seine Augen richten sich auf die Rennbahn. Danach sagt er einige Minuten nichts. Als die anderen vom Wettschalter zurückkommen, sagen sie: „Hoch spritzt der Dreck, das Geld ist weg.“ Pferdewetter haben eine eigene Art zu reden, so nennen sie das Pferd nicht beim Namen, sie sagen: „Die Sechs schon wieder, das hätte man sich denken können.“

Trotzdem ist auch beim Pferdesport nichts mehr, wie es war. Die Preisgelder sinken, die Tribünen leeren sich. Irgendwann gegen später fangen einige Pferdefreunde unter dem überdimensionalen Senfkübel in „Butze’s Imbiss“ an zu singen. „Der Wirt, der hat ein Töchterlein“, singen sie. „Es ist ein bisschen Endzeitstimmung“, sagt der Amateurfahrer und sieht plötzlich traurig aus. Vor der Imbissbude läuft ein alter Mann mit Prinz-Heinrich-Mütze vorbei, er geht am Stock. Wahrscheinlich sind die Tage der Trabrennbahn so oder so gezählt.

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