Posaunenchor im Zelt

Als Jugendlicher zog Martin Heinke mit einem Zirkus durch die DDR. Heute ist er einer von deutschlandweit drei Pfarrern der evangelischen Kirche, die sich um die Reisenden kümmern

„Bei Zirkusangehörigen spielt der Glaube eine große Rolle“

von CHRISTINE SCHMITT

Martin Heinke ist mit dem Zirkusvirus infiziert. „Ich war schon als Kind von der Zirkuswelt hin und weg“, sagt der 41-Jährige. Als 14-Jähriger begleiteten er und sein Cousin einen Sommer lang den Zirkus Hein. „Eine wunderschöne Zeit“, meint er heute. Sieben bis acht Zirkusse gab es in der DDR. Wenn einer seine Zelte in Heinkes Heimat in der Lausitz aufschlug, „dann war das ein großes Highlight“. Und so ziemlich jeder habe mindestens eine Vorstellung besucht. Heute gibt es etwa 400 Zirkusse in ganz Deutschland. Wenn ein Zirkus sein Zelt in Ostdeutschland aufbaut, dann ist Martin Heinke für die „Reisenden“, wie er sie liebevoll nennt, zuständig. Er ist Zirkus- und Schaustellerseelsorger, angestellt bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

„Drei unserer Pfarrer sind bundesweit für Zirkusse und Schausteller im Einsatz“, berichtet EKD-Sprecherin Karoline Lehmann. Jährlich seien die Zirkuspfarrer jeweils 200 Tage unterwegs. Seit mehr als 30 Jahren biete die evangelische Kirche diese Begleitung an, so Lehmann.

In der DDR habe es bereits in den 50er-Jahren Zirkuspfarrer gegeben, weiß Heinke. Vier Dörfer hatte der Gemeindepfarrer aus Nohra elf Jahre lang betreut. Vor zwei Jahren wurde er Zirkuspfarrer. „Ich habe zwar nicht mein ganzes Leben lang von dieser Stelle geträumt.“ Gefreut habe er sich allerdings sehr.

„Anfangs war es wahnsinnig spannend und anstrengend“, erzählt Heinke. Er wurde zu Hochzeiten, Konfirmationen, Taufen und Beerdigungen gerufen. „Ich war mir zunächst nicht sicher, ob es funktionieren und ich akzeptiert würde“, sagt der Pfarrer. Aber viel Zeit blieb ihm nicht zum Nachdenken. Er muss sich darum kümmern, dass ein Posaunenchor bei einer Taufe im Zelt bläst, ein Chor bei einer Hochzeit singt und dass einheimische Gemeindemitglieder das Zirkuszelt für einen richtig schönen Gottesdienst füllen.

„Zirkusse gehören der Freizeitbranche an, und das Wichtigste ist für ihre Mitarbeiter, dass die Vorstellungen reibungslos klappen“, so Heinke. Eine Erfahrung, die er erst einmal machen musste. Wenn Reisende ihn anrufen, damit er sie wieder besuchen kommt, um eine Hochzeit oder Taufe zu feiern, dann fährt er mit Auto und Wohnwagen los und stellt sich neben die anderen Wagen. „Ich lebe für ein paar Tage mitten im Zirkus“, so Heinke stolz. Obwohl die meisten kaum Zeit haben, weil sie gerade trainieren, aufbauen und Vorstellungen geben, sind immer einige sofort zur Stelle, um sich für Strom und Wasser für den Pfarrer zu kümmern. Und um einen frischen Kaffee.

Mittlerweile weiß Heinke, wie er die Zirkusangehörigen am besten erreicht. „Bei der Arbeit darf man nicht im Weg stehen.“ Aber wenn er um das Zelt herum geht, trifft er immer jemanden, der gerade mal nichts zu tun und Lust auf eine Unterhaltung hat, bis er in die Manege muss. „Dann gehe ich weiter und treffe den Nächsten.“ Bei der nächsten Runde ums Zelt wird das Gespräch vertieft. Man dürfe nicht beleidigt sein, wenn es abrupt endet. Es gebe eben immer etwas zu tun. „Das musste ich erst einmal kapieren.“

„Bei Zirkusangehörigen spielt der Glaube eine große Rolle“, meint Heinke. Immerhin seien mehr als 90 Prozent der Kinder getauft. Die Gläubigkeit käme eher aus dem Bauch heraus, sie sei weniger rational begründet. „Ich habe Angst, dass wir es nicht mehr schaffen“, wird Heinke oft anvertraut. „Wenn ein Zirkus nicht mehr existieren kann, dann ändert sich für alle schlagartig alles.“ Sie müssen ihren Lebensstil komplett ändern, sind nicht mehr unterwegs und müssen ihren Wohnwagen gegen eine Sozialwohnung tauschen. Auch die Schul- und Ausbildungsprobleme der Kinder seien belastend. Regelmäßiger Schulbesuch ist nur selten möglich.

Immer mehr Schausteller gehen dazu über, eine Wohnung zu mieten und von dort täglich zum Rummel zu fahren. Gerade in Berlin sei fast immer irgendwo Jahrmarkt. Doch auch bei den Schaustellern ist Pfarrer Heinke oft. „Die Jugendlichen lieben es, mit mir neue Achterbahnen auszuprobieren – was nicht meinem Geschmack entspricht“, sagt Martin Heinke lachend.

Der Vater von vier Kindern liest in seiner wenigen freien Zeit lieber „Der Laden“ von Strittmater oder kümmert sich um seine zwei Islandponys und seinen Esel. Aber er sei viel unterwegs, sagt Ehefrau Anna-Maria Heinke. Besonders im Sommer müsse sie schon mal eine Woche auf ihn verzichten. Und wenn Martin Heinke zufällig über einen Zirkus stolpert, der in der Nähe seine Zelte aufgeschlagen hat, kauft er sich sofort eine Eintrittskarte und stellt sich später vor. „Ich geh halt gern in den Zirkus“.

Heute, 11 Uhr, Schaustellergottesdienst in der Gedächtniskirche mit Pfarrer Martin Heinke (Jena), Pater Heinzpeter Schönig aus Augsburg